Ich habe mich in Krankenhäusern immer wohlgefühlt. Schon als kleiner Junge war ich mit meiner Mutter im Schwesternzimmer. Später habe ich als Krankenpfleger mit Kindern, Säuglingen oder alten Menschen gearbeitet und sogar mein erstes bezahltes Training als Freelancer für die Ärzt:innen und Schwestern des Krankenhauses Rüsselsheim gegeben.
Das Schwesternzimmer war dabei für mich als kleiner Junge – ich war vielleicht fünf Jahre alt – ein wundervoller Ort. Die Krankenschwestern saßen im Kreis und strickten, während sie Kekse aßen und Sekt tranken. An der Wand hing die Glocke und immer, wenn ein Patient klingelte, stand reihum eine der Schwestern auf und versorgte ihn. Es gab ein stillschweigendes Einverständnis: Jede konnte in Ruhe dort sitzen und sich erholen – und doch waren diese Profis natürlich sofort zur Stelle, wenn sie gebraucht wurden. Die morgendliche Übergabe war für mich später das Vorbild für das Daily Scrum: Der Frühdienst erklärt dem Spätdienst, was in den vergangenen Stunden auf der Station passiert ist.
Durch die Erzählungen meiner Mutter kannte ich auch die andere Seite der Medaille: die Probleme und Dysfunktionalitäten von Krankenhäusern, die Streitereien des Pflegepersonals untereinander, die Konflikte mit den Ärzt:innen oder der Verwaltung. Später erlebte ich als Pfleger selbst die menschenverachtenden Prozesse, in denen alle ständig am Rande ihrer Leistungsfähigkeit arbeiteten und deshalb keine Zeit mehr für ihre Familien hatten. Und doch ging es allen im Krankenhaus, sogar den Menschen in der Verwaltung, immer nur darum, die Kranken so gut wie möglich zu versorgen. Schuld an der Misere war also nicht der Job an sich, sondern die Strukturen.
Wussten Sie, dass Ärzt:innen und Pflegepersonal unabhängig voneinander Übergaben machen, obwohl sie dieselben Patient:innen betreuen? Oder dass unterschiedliche Bereiche oft separate IT-Systeme nutzen? Diese Silo-Aufteilung führt dann dazu, dass Prozesse höchst ineffizient ablaufen, dass das Pflegepersonal, aber auch Ärzt:innen reihenweise kündigen und die Branche einfach kein neues, qualifiziertes Personal mehr findet.
Bemerkenswert dabei ist, dass Berufe im Gesundheitswesen oft von den Menschen, die sie ergreifen, als Berufung gesehen werden. Diese Beobachtung machte ich schon als Zivi. Ich arbeitete in einer integrativen Kindertagesstätte für geistig behinderte und schwer spastisch gelähmte Kinder und nahm wahr, dass die Pädagog:innen regelmäßig zur Supervision gingen, um an sich selbst und ihrem Team zu arbeiten – sie wollten besser werden. Sie wussten um ihre eigenen Dynamiken, Konflikte und Befindlichkeiten und welchen großen Einfluss diese auf das Verhalten der Kinder hatten. Doch die größte Berufung der Welt nützt eben nichts, wenn die Rahmenbedingungen mehr und mehr an die Substanz gehen.
Als ich selbst auf der Suche nach meiner Berufung war, lernte ich während des Studiums die Boston Consulting Group kennen. Bei ihren Recruiting-Bemühungen hielten die Berater:innen damals an der TU Darmstadt Vorträge über ihren tollen Job. Ich wollte auch dabei sein. Obwohl ich merkte, dass meine Begeisterung für das Verstehen der Welt eher in der Philosophie und Soziologie befriedigt wurde, war ich immer naturwissenschaftlich geprägt – von Medizin und Physik. Vielleicht fasziniert mich mein Bild des Consultings deshalb noch heute: Unsere Aufgabe ist es, die eigentliche Ursache der Probleme zu lösen.
Mein Lieblingsbeispiel dafür ist Red Adair. Als ich ein Kind war, sah ich einen TV-Bericht darüber, wie der vielleicht berühmteste Feuerwehrmann der Welt mit einem Kran, an dessen Haken Dynamit hing, ein brennendes Bohrloch ausblies. Die Bombe explodierte, und das Feuer war aus. Für mich war das unglaublich: Man konnte mit einer Bombe, also der Ursache von Bränden, das Feuer wieder ausmachen! Klar, irgendwann verstand ich, dass es darum ging, ein Vakuum zu erzeugen, um dem brennenden Bohrloch auf diese Weise den Sauerstoff zu entziehen. Doch genau darum geht es doch: Profis wissen, wie es geht, und können deshalb die scheinbar existierenden Regeln brechen. Später lernte ich, dass dieser Spezialist genau diese eine Sache am besten konnte. Er tat nichts anderes, löschte überall auf der Welt mit seiner Firma diese Art von Bränden und wegen seines roten Anzugs war er überall bekannt.
Ich bin mir sicher: Meine Suche nach alternativen Lösungen und den Paradigmenwechseln wurde durch diese Szene ausgelöst. Gleichzeitig war ich von Red Adairs Wagemut beeindruckt. Er war definitiv etwas Besonderes. Mein eigenes Beratungsunternehmen gründete ich mit dem Antrieb, die Welt mit agilen Prinzipien ein bisschen besser zu machen. Mein persönliches Motiv: Am Ende des Arbeitstags soll jede:r noch so viel Kraft und Energie haben, um Zeit mit der Familie zu verbringen und mit den Kindern zu spielen. Ich glaube, das ist uns in weiten Teilen der Wirtschaft gelungen. Unsere nächste Mission ist deshalb, da anzusetzen, wo der Missstand noch zu groß ist: in Krankenhäusern. Wir wollen sie unterstützen, festgefahrene Strukturen aufzubrechen und ein humanes Arbeitsumfeld zu schaffen – damit die Begeisterung wieder überwiegt.
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