Um diese Frage zu beantworten, muss ich ein wenig weiter ausholen. Mein erster Versuch ein Buch über Skalierung von Scrum zu schreiben war ein Desaster. Ich schrieb mich in eine Schreibblockade. Es ging nicht! Monatelange probierte ich unterschiedliche Zugänge zu dem Thema aus, verfasste Gliederungen, schrieb meine ersten Zeilen und blieb stecken. Dann viel es mir wieder ein. Es war fast als würde ein Film in meinem Inneren ablaufen: Recife, 2008. Ein großer Saal. Eine Software Entwicklungskonferenz. Auf der Bühne spricht Jan Bosch. Ein Star in der Software-Architektur-Szene. Seine These: Große Projekte skalieren nicht über den Prozess, sondern nur über die Architektur. Jeder Versuch ein großes Projekt mit Hilfe von Prozessen im Griff zu halten, muss am Ende scheitern, weil die Abstimmungsaufwände zu groß werden, führte er weiter aus. Das passte zu meinen Erfahrungen. Ich hatte bis dahin bereits mehrere Male großes Entwicklungsprojekte mit 60 Personen, 180 und 250 Personen auf Scrum umgestellt. Ja, es war möglich, aber es war so extrem anstrengend. Es gab irre viele Abstimmungsmeetings und die Taskboards wurden länger und länger, das längste war 7 Meter lang.
Und Bosch erklärte uns ja nur, was in Sillicon Valley bei Amazon und Intuit in Sacheng große Projekte passierte. Das war die Zeit als die Idee die Microservice Architektur nicht nur erfunden, sondern implementiert wurde. Sein Ansatz versprach die Lösung, denn ich hatte es selbst erlebt – es war möglich 180 Entwickler:innen gleichzeitig an einem Projekt arbeiten zu lassen und die vielen Abhängigkeiten mit Hilfe von Taskboard zu managen. Auch konnte man das Sprint Planning so gestalten, dass die 180 Entwickler:innen am Ende eines Tages tatsächlich wussten, was sie entwickeln wollten. Ich hatte die Idee von Bas Voode, nimm einen großen Raum und setze alle 180 Personen dort hinein, umgesetzt und lauffähig gemacht (heute heißt das Big Room Planning). Doch es war so unendlich mühsam, laut und chaotisch. Aber auf Dauer war das keine Lösung. Es kostete ja irrsinnig viel Geld. 180 Entwickler:innen zum Tagessatz von 800 Euro ... ich sagte dazu immer: “Und gerade wurde wieder ein Porsche 911 verbrannt.” Diesen gigantischen viel zu teuren Overhead muss man sich erst einmal leisten können.
Ich bin immer noch der gleichen Meinung: Kund:innen beauftragen zwar unsere Consultants dafür diese Big Room Meetings zu veranstalten, doch effektiv ist das nicht. Wir können das Big Room Meeting effektiv machen, doch dieser Ansatz ist grundsätzlich falsch.
Warum? Dafür gibt es zwei Gründe:
Aber ich verliere mich schon im Detail. Die Änderung der Architektur war also die Lösung des Skalierungsproblems. Jedes Team ist dabei für einen oder mehrere Services zuständig. Ein Service gehört aber immer nur einem Team. Das führt dazu, eine Organisation aus unabhängigen Teams aufzustellen und die ersten Bilder dazu, wurden dann von Spotify erläutert und das Spotify-Modell entstand.
Gleichzeitig muss ein weiteres Problem gelöst werden. Wenn unterschiedliche Services zusammen interagieren müssen, die alle für sich gekappselt sind, doch voneinander wissen, dann müssen diese Services miteinander kommunizieren. Es braucht eine Infrastruktur, die diese Kommunikation ermöglicht. Unsere Laptops haben alle ein Betriebssystem, dass die Hardware-Infrastruktur (Gehäuse, Bildschirm, Tastatur, Stromversorgung, Chips) so abstrahiert, damit darauf die Applikationen, die Services laufen können. Das skalierte System aus zig-Tausend Services (Word, Excel, Safari, Powerpoint bestehen selbst wieder aus 1000den Services) funktioniert, weil unabhängige Einheiten durch das Betriebssystem in die Lage versetzt werden, miteinander zu kommunizieren. Die Architektur war also nur die eine Bedingung, es brauchte auch die zweite Voraussetzung, eine neue Art der Infrastruktur. Auf die Produktentwicklung umgemünzt hieß, dass wir müssen bei großen Projekten nicht nur in Microservices denken, wir brauchen auch noch die Tools und Prozesse – das Betriebssystem, in Form von Infrastruktur, damit die Teams gemeinsam liefern können.
Am besten werden durch das Betriebssystem dann auch noch die meisten Prozessschritte automatisiert. Hier ist das Continuos Deployment und das automatisierte Testen zunächst erst einmal nur die Eintrittskarte. Es kann noch viel mehr automatisiert werden, wenn man sich damit auskennt. (Übrigens steckt hier natürlich der erste entscheidende Anwendungsfall für GEN-AI; jeder Wissensarbeiter wird in die Lage versetzt, seinen Job zumindest in Teilen zu automatisieren.
Jedem der diese obigen Tatsachen akzeptiert und damit seine Prämissen ändert - kann nicht mehr daran glauben, dass Skalierungsmodelle die Lösung der Probleme großer Projekte sind. Egal ob Nexus, SAFe, LeSS oder die anderen Skalierungsframeworks, sie alle hatten 1. noch immer das falsche Ausgangsszenario und 2. verkannten die Tatsache, dass Skalieren über Prozesse viel zu teuer wird.
Der dritte Schritt war dann eine Folgerung aus einer Beobachtung. Die meisten Organisationen konnten weder mit der Idee der emergenten Architektur noch mit Microservices, weder mit Test Driven Development oder Automatisierung, ja die meisten Organisationen scheitern noch daran, dass die kollaborativen Tools wie Miro oder MS Teams nicht in ihrem vollen Umfang genutzt werden – es fehlt an den Skills. Es nützt nichts, das Obige zu wissen, wenn es die Organisation, d.h. die Menschen in den Organisationen, nicht denken können, weil sie die Skills nicht haben.
Ein Modell, dass erklären will, wie man ein wirklich großes Produkt baut, musste dann also auch den Faktor Skill berücksichtigen. Diese Tatsache wird im Übrigen ebenfalls nicht in den bekannten Frameworks wie SAFe angesprochen – und ich rede nicht von agilen Skills. Es geht um den Skill, seine Arbeit anders als im klassischen Kontext zu machen. Allein das Beispiel Automatisierung oder KI heute zeigt, was hier gemeint ist.
Um diesen Artikel hier nicht zu sprengen: Es gab noch drei weiteren Aspekte:
Diese 6 Level haben wir hier einmal dargestellt.
Soweit zu Genese der Überlegungen, warum Skalieren selbst etwas völlig anders ist, als es in den Skalierungsframeworks erklärt wird. Nur – dann, wenn all diese Faktoren miteinander betrachtet werden, kann eine Organisation tatsächlich agile, also user-zentriert und hocheffektiv liefern. Alles andere führt zu Bürokratie und gigantischen Kosten.
Wer unbedingt SAFe machen will, der muss eine große Organisation haben und viel sehr viel Geld in die Hand nehmen können. Die Aufwände, nur SAFe zu managen, weil es nur um Prozesse geht, sind sehr hoch – und man muss auch noch eine Lizenz dafür zahlen, wenn man es benuten will. Absurd – ist es doch u.a. in meinem Buch Scrum Think B!G beschrieben, wie Skalierung prozessual gemanaged wird.
Aber hier geht es nicht darum SAFe schlecht zu machen, sondern zu zeigen, dass es auch anders geht. Wir haben selbst darüber nachgedacht, wie wir Organisationen unterstützen können, wenn sie noch nicht ideal aufgestellt sind. Wenn sie noch keine Teams haben, die End2End liefern können, wenn die Architektur noch nicht passt, wenn es noch keine ausreichende Automatisierung gibt und auch noch der/die Anwender:in viel zu wenig befragt wird – unsere Lösung für unsere Kund:innen ist der MyScaled Agile Ansatz.
Basierend auf dem obigen sechs Punkten und dem korrespondierenden 6D Assessment – entwickeln wir einen strategischen Implementierungspfad mit unseren Kund:innen. Ja – wir haben dabei auch unseren Blue Print im Kopf, doch dieser kann auf vier Prinzipien reduziert werden:
Um dorthin zu gelangen ist es häufig so, dass Organisationen Zwischenstadien benötigen und zunächst den ein oder anderen Vorläufer zu einer netzwerkartigen Struktur eingehen müssen. Das ist völlig ok – solange es gelingt, systematisch die Organisation auf die Kund:innen auszurichten und damit zukunftsfähig zu halten. Wer mehr dazu wissen will – schaut einfach mal hier: Agile Skalierung
Machen wir also SAFe? – Wir würden selbst keine SAFe Implementierung empfehlen, doch wenn Kund:innen unsere Expertise in ihrem SAFe Projekt benötigen, um dann SAFe zu implementieren, lassen wir unsere Kund:innen natürlich nicht allein. Die Hoffnung bleibt, dass wir mit unserer Expertise im SAFe Kontext die der Agilität zugrundeliegenden Prinzipien doch am Ende für unsere Kunde:innen nutzbar machen können.
Titelbild: iStock/Drazen Zigic