Durch Dissens zur Team-Intelligenz

1906 – Francis Galton besucht eine Nutztierschau in England. An einem Stand dürfen die Vorbeikommenden raten, wie viel das Fleisch eines Ochsen nach dem Schlachten und Zerlegen auf die Waage bringt. Der britische Forscher reibt sich die Hände: die perfekte Möglichkeit, statistisch zu beweisen, dass die Masse in Summe dümmer ist als eine Einzelperson und ihre Schätzungen deshalb willkürlich. Anschließend an die Schau lässt Galton sich die eingereichten 787 Karten, auf denen die Schätzungen stehen, aushändigen (DSGVO gab es ja noch keine).

Daheim dann die Berechnung – und Heureka: der Mittelwert aller Schätzungen weicht nur um 0,8 % vom tatsächlichen Gewicht des Ochsenfleisches ab. Er ist sogar genauer als die individuellen Schätzungen der Metzger und Bauern, also von Experten, die ein Auge dafür haben sollten. Galton veröffentlichte seine Ergebnisse in Nature und begründete damit die Erforschung der kollektiven Intelligenz: Sie bezeichnet das Prinzip, dass Gruppen von Menschen klüger sein können als selbst die klügsten und erfahrensten Einzelpersonen unter ihnen für sich alleine.

Der schmale Grat zwischen borniertem Mob und intelligentem Schwarm

Szenenwechsel: 2020 Projektalltag. 115 Jahre später sehe ich mich auf Projekten immer noch mit der vorherrschenden Meinung konfrontiert, dass Aussagen von Expert:innen wertvoller und punktgenauer seien als die der Masse. Speziell bei Transformationen und Schätzen im Scrum-Team, bewerten Teilnehmende die Meinungen von Expert:innen höher als ihre eigene und trauen sich nicht, als Gruppe selbst die Verantwortung zu übernehmen. Dabei hat die Forschung seit Galtons Veröffentlichung in verschiedenen Bereichen immer wieder gezeigt, dass die Aggregation einer Vielzahl von Urteilen häufig und manchmal dramatisch die Genauigkeit erhöht, da sich individuelle Fehler aufheben.

Warum glauben dann aber noch immer viele, dass Menschenmengen dumm sind? Nun ja, weil sie nicht unfehlbar sind. Damit „Schwarmintelligenz“ funktioniert, müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:  

  1. Es müssen Probleme sein, die von den Individuen zumindest grob bewertet werden können: Die Messebesucher:innen hatten eine Vorstellung davon, wie viel Volumen ein Kilo Fleisch hat. Wenn bei Schätzversuchen zu schwierige Fragen gestellt werden, liegt die Antwort der Masse komplett daneben.
  2. Eine weitere entscheidenden Bedingung ist, dass es eine Diversität von Einschätzungen geben muss. Wenn eine Gruppe zu einer Antwort gedrängt wird, einem Hype folgt oder keine abweichenden Meinungen mitteilen darf, wird sie effektiv zu einem einzigen, sehr fehlbaren Individuum, gut zu sehen an Spekulationsblasen und den Flat Earthers. Es ist wichtig, unabhängig voneinander getroffene Einschätzungen zu haben. Die klügsten Menschenmengen bestehen aus Individuen, die nicht einer Meinung sind.

Kollektive Intelligenz gibt es auch außerhalb des Schätzens

In jeder Transformation ist es sinnvoll, dass kollektive Wissen der Mitarbeitenden zu aktivieren, denn sie, in der Masse, schaffen ein besseres Resultat als einzelne Expert:innen. Forscher:innen der University of Washington schafften es sogar mit Hilfe eines Internetspiel und der Beteiligung tausender Nichtfachleute die komplizierte Struktur eines Virusproteins (aus dem Affenvirus M-PMV) zu entschlüsseln, an der sich Molekularbiolog:innen und Großrechner seit Jahren die Zähne ausgebissen hatten.

Aber auch wenn es sich nur um ein Meeting zu einem einfacheren Thema handelt, nutzen Sie die Macht der Masse. Mir ist die Sinnhaftigkeit dieses Prinzips im Zusammenhang mit Agile in meiner allerersten Schulung zum ScrumMaster aufgefallen. Der Trainer wandte die Methode 1-2-4-All an: Nach jedem inhaltlichen Block stellte er eine Frage, ließ jede:n zuerst für sich eine Antwort notieren, diese danach mit einer weiteren Person besprechen, dann in Vierergruppen und abschließend im Plenum. Ich erhielt viel mehr Austausch und mehr Blickwinkel als im altmodischen Frontalunterricht damals in meiner Schulzeit. Weitere Lieblingsmethoden auf meiner Liste, um die kollektive Intelligenz anzuzapfen, sind Triz und Troika Consulting.

Diverses Denken lässt sich auch im Individuum fördern

Die beiden holländischen Psychologen Philippe Van de Calseyde und Emir Efendić ließen in einem Experiment Menschen zwei Schätzungen abgeben. Nach der ersten sollten diese an eine Person denken, mit der sie sich oft nicht einig sind. Dies veranlasste die Proband:innen dazu, eine zweite Schätzung anzunehmen, die sie normalerweise nicht als praktikable Option in Betracht gezogen hätten. Der Durchschnitt dieser beiden Schätzungen war in der Regel näher an der Realität als der der Vergleichsgruppe. Wenn Sie demnächst eine Entscheidung treffen, dann denken Sie einfach an ein Familienmitglied, mit dem Sie oft nicht einer Meinung sind.

Das Scrum-Team schätzt besser als das Individuum

Indem sich die Teammitglieder des Scrum-Teams mit abweichenden Schätzungen auseinandersetzen, werden diese besser. Selbiges gilt auch für Meinungen bei Entscheidungsfindungen. „Wer kann gut schätzen?“ ist bei Scrum also die falsche Frage, weil ja gerade durch das gemeinsame Arbeiten die kollektive Intelligenz aktiviert wird und somit die Gruppe jedes Individuum schlägt. Indem Sie die Schwarmintelligenz nutzen, stellen Sie sicher, dass Ihr Team mehr als die Summe der einzelnen Personen ist und bessere Resultate, die näher an den Bedürfnissen der Kund:innen liegen, erzeugen.

Titelbild: Ariana Prestes, Unsplash

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Steffen Bernd
June 10, 2021

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