Hier in Wien endet heute das erste Semester dieses ungewöhnlichen Schuljahres und die Schülerinnen und Schüler erwarten gespannt ihre Zeugnisse. Mein Sohn ist in der 2. Klasse Volksschule (Grundschule in Deutschland), gute Noten sind hier noch Standard, und auch Corona und Home Schooling tun ihr Übriges in punkto milder Bewertung. Dennoch sind die Noten ein Thema – auch für die Eltern.
Unsere Kinder lernen derzeit von zu Hause via MS Teams und sind erst nach den Semesterferien wieder in der Schule. Die Semesterzeugnisse werden auch erst dann ausgehändigt, die Lehrerin unserer Kinder möchte die Noten aber netterweise vorab schon mitteilen. In der Eltern-WhatsApp-Gruppe äußerte ein Vater: „Die Noten dürfen nur transparent vor allen kommuniziert werden, wenn auch wirklich alle Kinder nur „sehr gute“ Noten bekommen.“
Diese Äußerung stieß mir sauer auf. Warum? Mit Sicherheit steckte eine gute Absicht dahinter. Kinder können gemein sein oder hänseln sich gegenseitig. So etwas wie „Du hast nur eine 2, ich aber eine 1“ ist schnell gesagt. Vielleicht wollte der Vater sein Kind und auch die anderen vor solch einer Dynamik schützen. Doch was transportieren wir Erwachsenen damit? Wenn wir unterstützen, dass Rückmeldungen nur “im stillen Kämmerlein” gegeben werden, drücken wir damit nicht implizit aus, dass man sich schämen muss, nicht nur sehr gute Noten zu bekommen?
Reflektieren wir unsere persönliche Einstellung zu Lernen, Leistung und damit zu Noten! Ob wir wollen oder nicht, unsere Einstellung kommunizieren wir an unsere Kinder – explizit und implizit. Wenn wir das bewusst reflektieren, haben wir Eltern die Chance, unseren Kindern bereits heute einen gesunden Zugang zu Lernen und Leistung zu vermitteln und ihnen damit ihr späteres Leben und Arbeiten zu erleichtern, indem wir sie vor übertriebenem Perfektionismus, krankhaft hohen Ansprüchen, ja, gar vor Burnout bewahren. Sehen wir Feedback – im Schulkontext sind das eben auch Noten – als eine Chance für Lernen und Entwicklung, nicht als abschließende Bewertung. Und versuchen wir, den Blick auf Stärken und Talente zu lenken!
Wir alle wären sie gern, aber es gibt sie nicht: die eierlegende Wollmilchsau! Es kann nicht jeder alles gleich gut können. Daher werden die meisten unserer Kinder früher oder später auch schlechtere Noten als ein „Sehr gut“ bekommen. Und das ist okay, wir können nicht alle alles gleich gut. Bitte verabschieden wir uns von unserer Defizitorientierung! Feiern wir Stärken und Talente! Es ist längst bekannt, dass das Fördern von Stärken und Talenten unsere Kinder weiterbringt als das Herumdoktern an Schwächen. Mehr Freude und Spaß sind auch inkludiert.
Ob man sie ablehnt oder nicht, Noten haben natürlich eine Funktion: die Rückmeldung an die Schülerinnen und Schüler, wo sie stehen. Fast wünsche ich mir insgeheim, mein Sohn bekäme bald mal ein „Gut“ anstelle eines „Sehr gut“. Sicher, das birgt das Risiko von Enttäuschung und Demotivation, aber es beinhaltet auch die Chance, dass er früh lernt, sich anzustrengen und zunächst einmal das Lernen lernt. Und das lieber jetzt in der 2. als in der 4. Klasse, wenn Noten doch etwas Bedeutung bekommen (nämlich beim Wechsel in die weiterführende Schule, wo das Leistungsprinzip noch stärker ausgeprägt sein wird).
Warum das Lernen selbst so wichtig ist? Eine kurze, lapidare Antwort lautet: „Ohne Fleiß kein Preis.“ Laut Carol Dweck, Professorin für Psychologie an der Stanford University, gehen Menschen mit einem Growth Mindset erfolgreicher durchs Leben. Sie sind der Überzeugung, dass Talent oder Intelligenz veränderbar sind, nämlich durch ihre eigene Lernbereitschaft und kontinuierliche Anstrengung. Für morgen dazuzulernen, ist ihnen wichtiger, als heute gut dazustehen. Daher haben sie einen gesunden Zugang zum Lernen. Für Personen mit einem Growth Mindset ist eine schlechtere Note Ansporn, denn sie sehen immer die Möglichkeit des Besserwerdens. Und sich anstrengen, für etwas kämpfen können, das sind Kompetenzen, die noch niemandem geschadet haben. Ermöglichen wir unseren Kindern doch, von Anfang an ein Growth Mindset zu erlernen!
Wer Carol Dwecks Idee von “Fixed vs. Growth Mindset” kennenlernen möchte, dem empfehle ich ihren TED-Talk “Der Glaube an die eigene Lernfähigkeit”.
https://www.ted.com/talks/carol_dweck_the_power_of_believing_that_you_can_improve/transcript?language=de
Wagen wir einen Ausblick: Welche Arbeitswelt erwartet unsere Kinder? Neues Arbeiten, Sinnstiftung, Agilität, Selbstorganisation – der Trend zu einer menschlicheren Arbeitswelt ist überall sichtbar und ich bin überzeugt, dass sie einen noch stärkeren Wandel in diese Richtung erleben wird.
Auch bei borisgloger arbeiten wir selbstorganisiert und leben Offenheit und Transparenz. So geben wir uns Feedback nicht ausschließlich unter vier Augen hinter verschlossenen Türen, sondern eher transparent im Team. Wenn ich Feedback als eine wohlwollende Rückmeldung für meine Weiterentwicklung, als Chance zum Lernen verstehe, warum sollte ich mich damit verstecken?
Für meinen Sohn wünsche mir eine Lernumgebung, in der er diesen positiven Umgang mit Feedback (in der Schule eben auch in Form von Noten) erleben kann. Ich wünsche mir, dass in seiner Klassengemeinschaft über Stärken und Lernbereiche offen und transparent gesprochen wird. Denn es gibt nichts zu verstecken, wir sind alle keine eierlegenden Wollmilchsäue, sondern wertvoll mit unseren eigenen Stärken und Talenten!
Hast du dich als Elternteil wiedererkannt? Gelingt es dir gut, locker zu bleiben in punkto Schulleistung deiner Kinder? Ganz ehrlich, mir gelingt das nicht immer. Dieser Blog-Beitrag war natürlich auch ein Stück weit eine Botschaft an mich selbst. Daher freue ich mich über deine Erfahrungen und Tipps für einen gesunden Umgang mit Lernen, Leistung und Noten!