„Jeder ist ein Genie! Aber wenn du einen Fisch danach beurteilst, ob er auf einen Baum klettern kann, wird er sein ganzes Leben glauben, dass er dumm ist.“ – Albert EinsteinMit diesem Bild des Fisches, der immer wieder vergeblich versucht, den Baum zu erklimmen, beschreibt Albert Einstein sehr bildlich ein Dilemma, dessen Auswirkungen wir tagtäglich zu spüren bekommen. Obwohl oder gerade weil wir uns in einer stark leistungsorientierten Gesellschaft befinden, fokussieren wir uns sowohl im beruflichen als auch im privaten Kontext viel zu häufig auf unsere Schwächen. Dasselbe gilt für den Umgang mit unseren Mitmenschen: Wir thematisieren tendenziell eher ihre Fehler anstatt ihrer Glanzleistungen.Fragen Sie sich doch einmal selbst: Was sind Ihre Stärken und was Ihre Schwächen? Mir persönlich fallen sofort fünf Dinge ein, die mir nicht liegen oder die ich in Zukunft besser machen möchte. Bei der Formulierung einer Liste von fünf Stärken liegt mir der Stift schon deutlich schwerer in der Hand. Woran das liegt, ist schnell beantwortet: Von klein auf widmen wir einen Großteil unserer Zeit den fehlenden Kompetenzen. Egal ob Schulfächer, Tätigkeiten in der Ausbildung oder Aufgaben im Beruf – uns wird recht schnell klargemacht, worin wir noch besser werden müssen.
Müssen wir uns mit aller Kraft zu Dingen zwingen, die uns gar nicht liegen? Dass wir unsere Zeit viel besser in unsere Talente investieren können, verdeutlicht eine Studie, die bereits 1950 in Nebraska durchgeführt wurde. Diese verglich die Lesefähigkeit von normal begabten StudentInnen mit der von anderen StudentInnen, die sich durch eine besondere Lesebegabung auszeichneten. Es zeigte sich, dass normal begabte StudentInnen durch Übung von ursprünglich 100 gelesenen Wörtern auf bis zu 250 Wörter pro Minute kommen können. Aber: Die begabten KollegInnen konnten ihre Lesefähigkeit von anfangs 250 auf bis zu 2.900 Wörter pro Minute steigern. Sie erreichten somit ein fast 12 Mal besseres Ergebnis und hatten dabei auch noch Spaß.Mir ist dieses Thema gerade im Bereich der Team-Facilitation so wichtig, weil ich davon überzeugt bin, dass Teams nur optimal funktionieren, wenn jeder seine individuellen Stärken einbringen kann. Ich selbst habe den Anspruch, in meinen agilen Teams ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem man Spaß an seinen Aufgaben hat und die Teammitglieder jeden Tag mit guter Laune und voller Tatendrang zur Arbeit kommen. Eine wichtige Rahmenbedingung ist deshalb für mich, dass jede Kollegin und jeder Kollege die individuellen Talente nutzen kann. Denn nur so hat man das Gefühl, etwas erreichen zu können und Tag für Tag seinen Teil dazu beizutragen, dass das Team immer ein Stückchen besser wird. Und nur so kann man die erstrebten Ziele umsetzen und vielleicht sogar übererfüllen.
Um die Stärken eines jeden Einzelnen gezielt einsetzen zu können, muss man sich diese jedoch erst einmal bewusstmachen. Ich unterstütze meine Teams gerne durch einen gemeinsamen „Kompetenzworkshop“ dabei, sich auf ihre individuellen Fähigkeiten zu fokussieren. In diesem Workshop darf jeder innerhalb von 15 Minuten seine eigenen Kompetenzen in Form eines „Kompetenzbaums“ visualisieren.In den fest verankerten Wurzeln werden die Kernkompetenzen und das erlernte Wissen dargestellt. Der stetig wachsende und kräftiger werdende Stamm, der von Baum zu Baum ganz spezifische Strukturen haben kann, zeigt die Erfolgsfaktoren jedes Einzelnen. Dort ist Platz für die USPs (unique selling points = Alleinstellungsmerkmale), die jedes Teammitglied einzigartig und unabdingbar machen. Die Krone des Baums bildet eine prächtige, immer wieder nachwachsende Laubpracht, in der sich der persönliche Mehrwert wiederfindet, den das Teammitglied für das Team oder den Kunden generiert.Nach Ablauf der 15 Minuten stellen alle ihren eigenen Kompetenzbaum kurz vor und hängen ihn gut sichtbar im Raum auf.Dann beginnt mein Lieblingsteil der Übung: Jeder darf nun in einem Gallery-Walk die Kompetenzbäume der anderen vervollständigen. Hierbei ist es immer wieder erstaunlich, welche USPs und bereichernden Fähigkeiten man an sich selbst gerne übersieht. Indem die Kolleginnen und Kollegen diese offenlegen, geht man auf einmal viel bewusster mit ihnen um. Man nimmt sie nicht nur wahr, sondern erkennt auch Situationen, in denen man diese einsetzen kann, oder man entdeckt, wie die eigenen Fähigkeiten die der anderen Teammitglieder ergänzen können.
Mit dieser recht simplen Übung stelle ich das Bewusstsein über die Unterschiede im Team her und sensibilisiere den Blick für die jeweils starken Seiten und Begabungen eines jeden Einzelnen. Gleichzeitig haben der Gallery-Walk und die Vervollständigung der Kompetenzbäume durch die Kolleginnen und Kollegen einen tollen wertschätzenden Nebeneffekt.Natürlich ist mir klar, dass sich unsere Schwächen nicht in Luft auflösen, indem wir uns allein auf unsere Stärken fokussieren. Und selbstverständlich werden in bestimmten Berufsfeldern gewisse Grundanforderungen vorausgesetzt. Spiegeln sich diese nicht in den Fähigkeiten eines Bewerbers oder einer Bewerberin wider, wird es in diesem Arbeitsumfeld immer schwer sein. Wir sollten den Fokus unserer Aufmerksamkeit jedoch weg von den Fehlleistungen hin zu den Begabungen eines jeden Einzelnen lenken. Denn nur so können wir die individuellen Eigenschaften und das Genie, das in jedem von uns schlummert, optimal nutzen und in unser Team und die Arbeit einfließen lassen.