Ohne dass ich den Film „The Purge“ jemals gesehen habe, kenne ich die Handlung doch sehr gut. An einer Nacht im Jahr gelten, bis zum nächsten Morgen, keine Gesetze. Es wird gestohlen und Rache genommen an jenen, die einem (vermeintlich) unrecht getan haben.
Immer wieder bekomme ich bei Projekten den Eindruck, dass die Retrospektive genau diesem Muster folgt: Einmal pro Sprint gibt es dieses Event, an dem alle mal tun, lassen und sagen können, was sie wollen, ohne mit den Konsequenzen des nächsten Tages zu rechnen. Es wird mit dem Finger auf andere gezeigt und Schuld zugewiesen. Fragen werden sarkastisch beantwortet, Antworten anderer Teammitglieder werden unreflektiert abgeschmettert. Der richtige Weg, um ein produktives, wertschätzendes Umfeld und kontinuierliche Verbesserung zu schaffen, ist allerdings ein anderer. So kannst du verhindern, dass deine Retrospektive zur Purge (gewaltsamen Reinigung) wird:
Es ist ein simpler, aber effizienter Tipp, denn die Struktur ermöglicht dir, die Aufmerksamkeit immer wieder zur momentanen Fragestellung zurückzuführen. Dabei helfen eine klar strukturierte Agenda und die Timeboxen zu den jeweiligen Agendapunkten. Für ScrumMaster ist es im Allgemeinen empfehlenswert, für die ersten Retrospektiven einen Zeitpuffer einzuplanen, da die Beteiligten die Regeln und den Ablauf erst verinnerlichen müssen.
Wenn die Gefahr von Purge-Retrospektiven besteht, nutze ich enge Timeboxen von wenigen Minuten und deutliche Arbeitsaufträge, um Diskussionen auf konkrete Punkte zu beschränken und langwierige Diskurse abmoderieren zu können. Das funktioniert besonders gut, wenn der Retrospektive bereits vorbereitete Regeln zugrunde liegen, die allen bekannt sind. Entgleist eine Retrospektive, lassen sich auch spontan zusätzliche Strukturelemente, wie etwa Timeboxen, einführen. Meiner Erfahrung nach kann das spontane Einführen allerdings zu Widerständen und Unverständnis führen. Diesen begegne ich mit Ruhe und indem ich Widerstände spiegle. Natürlich steht es den Teammitglieder auch jederzeit frei, den (virtuellen) Raum zu verlassen. Erfahrungsgemäß steht dem die Angst, etwas zu verpassen, gegenüber. Teammitglieder nehmen die veränderte Struktur zähneknirschend hin und passen sich an die veränderten Spielregeln an.
Meine Erfahrung mit Purge-Retrospektiven ist, dass mehr Fokus auf das Sprechen als auf das Zuhören gelegt wird. So reden Teammitglieder oft aneinander vorbei und gehen nicht auf die Punkte der Anderen ein. Alle reden sich in Rage. Weniger dominante Teilnehmende kommen gar nicht mehr zu Wort. Wie die unbewaffneten Figuren in „The Purge“ gehen sie in Deckung, während die Wutentbrannten ohne Rücksicht darauf los feuern. Neben der bereits genannten Struktur hilft beispielsweise die Kreisarbeit dabei, die Purge zu vermeiden. So kommen alle Anwesenden zu Wort und werden angehalten, einander zuzuhören. Das schafft ausreichend Ruhe und Raum, um Aussagen zu reflektieren und Maßnahmen abzuleiten. Ein solcher Effekt kann auch mit anderen Moderationsregeln erreicht werden, wie Hände heben oder Wurfmikrofone nutzen.
Wie ich bereits eingangs erwähnt habe, führt nur das Fehlen von Gesetzen überhaupt erst zur Purge. Auch wenn du als ScrumMaster nicht in der Position bist, Gesetze zu verabschieden, so kannst du doch Regeln etablieren. Zum Beispiel die „Gentlemen’s“-Attitude, die alle Anwesenden dazu anhält, sich gegenseitig aussprechen zu lassen. Gerade in Remote-Zeiten ist es empfehlenswert, auch solche Regeln aufzustellen, welche den Teilnehmenden bewusst machen, dass es nicht akzeptabel ist, wenn sie E-Mails bearbeiten oder gleichzeitig anderen Tätigkeiten nachgehen.
Diese Regeln schaffen für alle eine gleiche Basis. Wie weitere Regeln aussehen können, erfährst du hier.
Wenn die Retrospektive trotz all dieser Tipps dennoch zur Purge wird, dann kann ein ScrumMaster trotzdem nützliche Informationen daraus gewinnen. Zum Beispiel kannst du in der Purge leicht diejenigen erkennen, die mit der Arbeitsweise oder dem System unzufrieden sind. Es ist ratsam, diesen Personen ein Ohr zu schenken. Die kritischen und möglicherweise weniger konstruktiven Stimmen bringen oft inhaltliche Beiträge ein, die durchaus ihre Daseinsberechtigung haben. Deswegen sollten ihre Vorschläge für Maßnahmen zur Verbesserung ebenso berücksichtigt werden wie das konstruktive Feedback von anderen.
Bringt eine Purge-Retrospektive nicht einmal diese Informationen hervor, dann können die meisten Themen, um die Zusammenarbeit des Teams zu verbessern, auch mit einem anderen Feedback-Prozess als der Retrospektive angegangen werden. Möglicherweise ist hier ein virtuelles oder physisches Whiteboard hilfreicher, auf dem ohne Termin für eine gewisse Zeitspanne Herausforderungen und Lösungsvorschläge vermerkt werden können. In einem gesonderten Meeting kann dann mit dem Team die wichtigste Maßnahme gekürt werden, um ausufernde Diskussionen zu vermeiden und sich das Commitment des Teams zu der jeweiligen Maßnahme einzuholen.
Abschließend möchte ich noch einräumen, dass auch Purge-Retrospektiven einem Zweck dienen und man sich bei allen Akteuren und Akteurinnen bedanken kann für ihr Engagement. Denn: Die Purge als solche dient der Reinigung. So ist es auch der Fall mit den Purge-Retrospektiven. Sie schaffen für das Team einen sicheren Raum, um Dampf abzulassen und die größten Störfaktoren zu adressieren – denn erst diese Offenheit und der Mut führen zur Purge. Wichtig ist, was du daraus machst. Gerne können wir über dieses abschließende Fazit diskutieren. Ich freue mich auf Kommentare.
Die Agile Sketches hat der Autor selbst erstellt. Agile Sketching ist eine agile Visualisierungstechnik, die man lernen kann. Mehr Infos zum Training gibt es hier.