Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ihr Team ist über mehrere Zeitzonen verteilt oder die Arbeitszeiten der Teammitglieder unterscheiden sich aufgrund von Teilzeit, Kinderbetreuung oder ähnlichem sehr stark voneinander. Sie als ScrumMaster möchten die kontinuierliche Verbesserung der Zusammenarbeit vorantreiben, indem Sie Retrospektiven durchführen. Jedoch finden Sie keinen Zeitpunkt, zu dem das gesamte Team gleichzeitig wach, geschweige denn am Arbeiten ist.
Dann eignet sich eine Taktik, die in diesem Team aufgrund der gegebenen Umstände sowieso schon vollkommen verinnerlicht wurde: asynchrone Kommunikation.
Bei einer asynchronen Retrospektive werden die einzelnen Schritte (Daten sammeln, Einblicke generieren und Entscheidungen treffen) über mehrere Tage verteilt, jedoch von den Teammitgliedern einzeln mit der gleichen Timebox pro Schritt durchgeführt. So kann jedes Teammitglied teilnehmen, auch wenn es keinen gemeinsamen Termin für die Retrospektive gibt. Dieses Vorgehen braucht allerdings etwas mehr Vorbereitung als eine synchrone Retro.
Tag 1: Informationen sammeln. Jedes Teammitglied füllt die Vorlage, die Sie gewählt haben, aus. Achten Sie darauf, dass die Teammitglieder einander möglichst nicht beeinflussen, indem sie beispielsweise keine Namen auf den Antworten vermerken. Ich lasse die Teammitglieder ihre Rückmeldungen noch während des Ausfüllens thematisch gruppieren. Sie wissen am besten, mit welchen Themen gewisse Probleme zusammenhängen. So können eventuelle Überschneidungen aufgezeigt werden und die Problemfelder werden klar. Dabei gebe ich weder bestimmte Themen noch bestimmte Arbeitsschritte vor, um die Rückmeldungen nicht in eine Richtung zu lenken: Das Team ordnet die Themen selbstorganisiert und kontinuierlich einander zu.
Tag 2: Wichtige Themen ermitteln. Dazu können Sie auf eine einfache Abstimmung, beispielsweise mittels Dot-Voting oder der Daumen-hoch-Funktion ihres Chattools, zurückgreifen. Die Teammitglieder verteilen eine fixe Anzahl an Stimmen pro Person (z. B. drei, wenn Sie maximal drei Themen angehen möchten) auf jene Themencluster, die ihnen am wichtigsten sind. Anhand der Rückmeldungen schlägt der ScrumMaster vor, für welche Themen an Tag 3 konkrete Maßnahmen gefunden werden sollen.
Wenn sich mehr als 40 % der Rückmeldungen auf ein Thema beziehen, ist eine Fokussierung darauf jedenfalls lohnenswert. Ich würde dem Team aber nicht von vorneherein Restriktionen auferlegen, damit es sich, statt um die Einhaltung von Regeln, um die eindeutige und möglichst umfängliche Formulierung der Themen kümmern kann.
Tag 3: Mögliche Schritte für die kontinuierliche Verbesserung. Jedes Teammitglied notiert seine Verbesserungsvorschläge zu den Themen mit der höchsten Bewertung vom Vortag. Meiner Erfahrung nach ist es gut, sich maximal drei Themen vorzunehmen, um den Fokus zu halten und die Maßnahmen wirklich durchzuführen.
Tag 4: Commitment einholen. Abschließend stimmt das Team wie an Tag 2 über die Themen nun darüber ab, zu welchen Maßnahmen es sich committen möchte. Das Endergebnis wird durch den ScrumMaster in das Team kommuniziert und so explizit gemacht. Mit diesem Schritt wird die asynrchone Retrospektive abgeschlossen und die Maßnahmen zur Umsetzung verbindlich festgelegt.
Die asynchrone Retrospektive ermöglicht allen Teammitgliedern unabhängig von ihrer Arbeitslast, Terminen und Zeitzone teilzunehmen.
Auch, wenn eine gemeinsame Retrospektive mehr in die Tiefe geht und das Team zusammenschweißt, so birgt die asynchrone Retrospektive weitere Vorteile: Die Teammitglieder können sich selbstorganisiert die Zeit nehmen, um an der kontinuierlichen Verbesserung zu arbeiten und werden noch autonomer in ihrer Arbeitsweise.
Dadurch, dass die Teammitglieder mehr Zeit haben, um sich auf die einzelnen Schritte vorzubereiten, können kreativere, effizientere Ansätze entstehen. Zusätzlich haben sie bereits Zeit gehabt, die bestehenden Inhalte zu reflektieren, was die Maßnahmenfindung deutlich effizienter macht, auch wenn Studien zeigen, dass die Teamarbeit meist weitergedachte Lösungsansätze zutage bringt.
Das asynchrone Vorgehen verlängert die eigentliche Durchlaufzeit der Retrospektive und macht es schwieriger, mögliche Punkte, die während des Sprints auffallen, in die Verbesserung und den darauffolgenden Sprint einzuarbeiten. Nehmen wir an, dass beim Review die Kund:innen nicht zufrieden waren, da die Akzeptanzkriterien falsch interpretiert wurden. Das wäre ein Punkt, den es zu verändern gilt. Das Team hat jedoch die dafür entscheidenden Phasen der Retrospektive für diesen Sprint bereits durchgeführt oder führt sie erst während des kommenden Sprints durch. Es entsteht ein zeitlicher Versatz zwischen den benötigten Verbesserungen und der tatsächlichen Umsetzung. Diesen Effekt versuche ich in der nachfolgenden Zeichnung darzustellen.
Zusätzlich geben Sie als ScrumMaster einen wichtigen Aspekt der Facilitation aus der Hand, denn: Sie sind nicht in der Lage, das Vorgehen und die Dynamik des Systems „Team“ persönlich zu erkennen. Das bedeutet, dass Sie nicht beobachten können, wie das Team zu Entscheidungen kommt oder wie die allgemeine Stimmungslage im Team ist. Es gehen somit entscheidende Aspekte für die Führung des Teams verloren.
Ein weiterer Nachteil ist, dass das Team während seiner laufenden Arbeit die Zeit finden muss, um den Retrospektive-Aufgaben nachzugehen. In meiner Erfahrung wird aber der Fokus auf die Lieferung von Produktinkrementen höher priorisiert als die Verbesserung der Zusammenarbeit. Zusätzlich fehlt der gegenseitige Austausch darüber, was den Teammitgliedern wichtig ist.
Der wohl schwerwiegendste Kritikpunkt, für mich zumindest, ist der folgende: Mögliche Probleme im System können unerkannt bleiben. Ein Beispiel ist, dass Meetings, die eine synchrone Retrospektive unmöglich machen, unerkannt bleiben. Dazu zählen beispielsweise ganztägige Workshops, die am selben Tag stattfinden, an dem ansonsten die Meetings zum Sprintwechsel stattfinden würden. Dadurch wird die Lieferfähigkeit beeinträchtigt, ohne dass dies Aufmerksamkeit erregt und die Konsequenzen früh spürbar werden.