Am Montag den 22. Oktober 2012 verurteilte ein italienisches Gericht sechs Wissenschaftler und einen Behördenvertreter zu mehrjährigen Haftstrafen. Den Betroffenen wurde vorgeworfen, sie hätten nicht ausreichend auf die Gefahr von Erdbeben hingewiesen bzw. die Gefahr verharmlost. Hier liegt ein konkreter Fall vor: Es handelt sich um die Stadt L'Aquila, die am 6. April 2009 von einem Erdbeben der Stärke 6,3 erschüttert wurde, das 309 Menschen das Leben kostete. Genau sechs Tage vorher hatten die Wissenschaftler angegeben, dass die kleineren Erdstöße im Vorfeld nicht zwangsläufig ein Warnsignal für ein Starkbeben seien - meist beruhige sich die Lage wieder. Ein fataler Fehler, nur leider beruhend auf den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Erdbebenforschung. [1]Was bedeutet so eine Verurteilung nun an sich? Prinzipiell eines: Es ändert sich das Anreizsystem (zumindest in Italien), das Grundlage für wissenschaftliche Aussagen in Bezug auf Katastrophen ist. Auf den Punkt gebracht zweierlei: Zum einen wird sich weiterhin keiner für falsche Vorhersagen ohne Schadensfall interessieren. Wenn ich also heute die nächste Finanzkrise vorhersage, werde ich zwar ein paar Schulterklopfer bekommen, wenn meine Vorhersage eintrifft - es wird aber niemanden interessieren, wenn meine Vorhersage nicht eintrifft. Zum anderen bekomme ich als Wissenschaftler in Italien juristische Probleme, wenn ich etwas nicht vorhersage und dann ein Schadensfall eintritt - wie aktuell passiert.Was für Anreize bringt so eine Art der Verurteilung mit sich? Ich kann mir genau zwei Fälle vorstellen:
In beiden Fällen verlieren wir die authentische und aufrichtige Einschätzung von Experten zu einem Thema.
Was mich direkt zur Software-Entwicklung bringt. Hier finden wir ein ähnliches Szenario: Das Schätzen von Anforderungen, Projekten, Komponenten - grob gesagt Dingen, die schwer zu schätzen sind und deren Eintreten in der Zukunft liegt. Leider gelangen wir in der klassischen Software-Entwicklung bzw. auch in Festpreisprojekten immer wieder an den Punkt, an dem Schätzungen zu barer Münze werden. Schätzungen werden zu Vertragsbestandteilen und werden als verbindlich betrachtet. Aus einem "nach besten Wissen und Gewissen" wird die "Unterschrift in roter Tinte". Ein schwieriger Sachverhalt, wenn man bedenkt, dass selbst ein Plan nichts anderes als eine Schätzung des Ablaufs in der Zukunft darstellt.
Wie sieht die übliche Reaktion eines Software-Entwicklungsteams aus, wenn es zu einer Schätzung kommt? Meiner Erfahrung nach treffen wir hier meistens auf Punkt 1: Keiner will schätzen - am liebsten würden alle aus dem Raum rennen, denn alle haben sich schon die Finger verbrannt. Ja, es gilt Abstand zu gewinnen und so schnell wie möglich rauszukommen aus dieser Bedrängnis. Klappt Schritt 1 nicht, dann gilt es Schritt 2 anzuwenden: Wir schätzen so, dass wir möglichst hoch in unseren Aufwänden sind - wir zeichnen dunkle Bilder, frei nach folgendem Schema:Team: "Hier sind unsere Schätzungen."Projektleiter: "Uff, das geht ja gar nicht, ich halbiere die mal!"Team: "Okay!"Projektleiter: "Okay? Ich hoffe ihr habt vorher die Aufwände verdoppelt?"Okay, der letzte Punkt ist meist nicht die Realität. Die Teams schätzen ehrlich nach bestem Wissen und Gewissen. Nur leider vergessen sie immer wieder etwas. Das liegt mitunter daran, dass wir immer nur die Best-Case-Szenarien abschätzen können, da unser Gehirn leider nicht viel mehr hergibt. Nichtsdestotrotz, in der klassischen Software-Entwicklung setzen wir die gleichen Anreize. Wir bestrafen Experten dafür, dass sie etwas beurteilen, was schwer bis gar nicht zu beurteilen ist. Wir bestrafen Mut und Offenheit und belohnen Weichmacher, Schönredner, Angstmacher und Schwarzseher.