Steffen, wie lebst du agile Führung?

Steffen hat seit vielen Jahren Führungsverantwortung für rund 20 Mitarbeitende bei einem großen deutschen Automobilhersteller. Aus meiner Sicht ist Steffen eine Führungskraft, wie sie in agilen Transformationen gebraucht wird: Er ist bereit, sich auf diesem Weg selbst neu zu erfinden und das in einem Umfeld, das gerade in der Pandemie schnell neue Lösungen der Zusammenarbeit bieten mußte: dem digitalen Arbeitsplatz.

Wenn sich ein Unternehmen mit aller Konsequenz zum agilen Arbeiten bekennt, löst das etwas in einer Führungskraft aus: Zuerst wird beobachtet, dann entsteht Neugier, dann experimentiert man selbst und dabei entsteht manchmal der Wunsch, doch wieder alles in die alte Welt zu pressen. Im Idealfall entsteht die Lust, den neuen Weg aktiv und wieder als Leader mitzugestalten – unterstützt von (externem) Coaching, das begierig aufgesogen wird.

Ssonja: Wann ist in dir die Erkenntnis gereift, dass die agile Art zu führen für dich sinnstiftend ist und du so führen möchtest?

Steffen: Für mich waren zwei Erkenntnisse ausschlaggebend:

Zunächst habe ich beobachtet, dass junge Menschen deutlich andere Erwartungen an Führung haben als frühere Generationen. Früher war der Chef der beste Fachexperte. Wenn wir heute Menschen von Google, Apple oder ähnlichen Unternehmen einstellen wollen, wollen diese Mitarbeitenden nicht gesagt bekommen, wie sie ihren Job zu erledigen haben. Sie sind Wissensarbeiter:innen. Sie möchten, dass da jemand ist, der ihnen vertraut, sie fördert, ermutigt, motiviert und ihnen Hindernisse aus dem Weg räumt. Das braucht andere Leadership-Kompetenzen als bisher.

Dazu kam ein privates Schlüsselerlebnis, durch das ich beruflich eine Auszeit nehmen musste. Danach musste ich gefühlt wieder von Null anfangen. Hier wurde mir klar: Als Führungskraft möchte ich ein Umfeld schaffen, in dem niemand Nachteile hat, wenn ein privates Ereignis einen gewollt oder ungewollt zur Auszeit zwingt. Ich möchte ein Umfeld schaffen, in dem jede:r da andocken kann, wo er oder sie ausgestiegen ist. Zumindest sollte es sich für jede:n so anfühlen. Ich hatte das Glück, dass bei mir selbst dieses Gefühl durch einen Führungswechsel nach kurzer Zeit wieder entstanden ist.

Ssonja: Wie möchtest du heute führen?

Steffen: Ich habe tatsächlich ein Mission Statement, an dem ich mich in einem Jahr messen lassen möchte: Ich möchte, dass Mitarbeitende wachsen können und zwar so, wie sie es möchten. Ich möchte in einem Jahr Mitarbeitende haben, die gut sind, die erfolgreich sind und die selbst erlebt haben, wie sie wachsen können. Ich möchte – im positiven Sinne – für die Mannschaft „überflüssig“ sein, weil sie selbst die richtigen Entscheidungen trifft. Dafür werde ich das mir Mögliche tun. Das ist für mich „servant leadership“.

Ssonja: Was ist notwendig, damit es gelingt?

Steffen: Drei Dinge:

Erstens: Die eigene innere, zutiefste Überzeugung und Haltung, die Mannschaft stark machen zu wollen. Ich glaube daran und ich möchte alles dafür tun, meine Teams in die Selbstorganisation zu führen. Ich möchte jede:n in der eigenen Stärken fördern und dazu befähigen, sich selbst zu führen, also nicht von mir abhängig zu sein.

Zweitens: Eine Differenzierung in den Mitarbeitendengesprächen, um den richtigen Rahmen für jede:n Einzelne:n zu finden. Die Basis jedes Gesprächs ist immer: Ich möchte, dass es dir gut geht. Dazu braucht jede:r etwas anderes:

  • Es gibt die Wissensarbeitenden, wie oben beschrieben: Mit denen bespreche ich den Rahmen, den sie brauchen, um sich entfalten zu können. Das sind dann Sparrings, Wissensaufbau über Schulungen oder untereinander. Ehrlichgesagt nehme ich da selbst oft sehr viel Input mit.
  • Es gibt die langjährigen Mitarbeitenden, die schon sehr lange und gut ihren Job erledigen und nicht viel mehr möchten, als ihren Job gut zu machen: Mit ihnen bespreche ich, was sie brauchen, um ihren Job mit Freude zu gestalten. Hier muss ich als Führungskraft beweisen, dass ich das Umfeld schaffe, in dem sie Freude entfalten können – denn diese Mitarbeitenden haben schon viele Versprechungen gehört. Aus dieser Gruppe kommt extrem viel Feedback und auch Respekt zurück.
  • Und schließlich gibt es die Mitarbeitenden, die mehr wollen – bis hin zur Nachfolgeplanung: Hier eröffne ich gezielt Perspektiven, und das kann auch Mentoring umfassen. In diesem Rahmen werden zusätzliche Weiterentwicklungsaktivitäten so geplant, wie es der oder die Mitarbeitende sich selbst vorstellen kann – neben dem bzw. innerhalb des Jobs.

Drittens: Meine eigene Fokussierung UND das eigene Loslassen. Um so agieren zu können, muss ich ziemlich radikal viele bisherige Führungstätigkeiten wie Meetings und Reportings niedriger priorisieren. Ich mach es einfach nicht mehr. Das ist zwar nicht immer einfach, aber es geht. Zudem muss ich mich immer wieder selbst ermahnen, keine Lösungen vorzugeben. Wenn ich möchte, dass meine Mannschaft wächst, muss ich dafür sorgen, dass sie jeden Tag trainiert, selbst Entscheidungen zu treffen. Dazu kann ich sie nur mit den richtigen Fragen ermutigen.

Ssonja: Wie hast du in die neue Art zu führen hineingefunden?

Steffen: Als in unserem Bereich Agilität eingeführt wurde, hatten wir hier Agile Coaches von euch, mit denen ich gerne ins Sparring gegangen bin. Daraus habe ich viel gezogen. Ich habe dann viel darüber gelesen und was noch sehr wichtig für mich war: Ich habe mich ganz viel mit Menschen mit anderen Umfeldern ausgetauscht, z. B. mit dem Innovationsmanagement und anderen tollen Kolleg:innen, in deren Bereichen diese Art zu arbeiten und zu führen schon etwas weiter ist.

Ssonja: Was hast du davon?

Steffen: Das Erleben daraus. Es kommt so viel von den Mitarbeitenden zurück. Wir bewegen zusammen viel und sie fühlen sich wohl dabei. Und ja, sie spiegeln mir, dass sie es durch diese Form des Leaderships erreichen. Das motiviert mich. Und: Ich lerne selbst so viel von der Mannschaft. „Never stop learning“ – das ist etwas, was mich inspiriert und mir Energie gibt

Titelbild: Priscilla Du Preez, Unsplash

Neues Arbeiten
Führung
Transformation
Ssonja Peter
November 3, 2021

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