Scrum wird häufig als Zaubertrank für alle möglichen komplexen und weniger komplexen Projekte und Aufgaben gesehen – gerade so, als ob ein kleiner pfiffiger Gallier ein Fläschchen vom Druiden seines Vertrauens leert und ganze Legionen klassischer Projektsoldaten aufmischt. Scrum ist aber kein Zaubertrank, sondern tägliche Arbeit. Häufig ist es freudige und erfüllende Arbeit, aber eben Arbeit und keine hedonistische, augenblickliche Genugtuung. So wie eben Zähneputzen auch tägliche Arbeit ist.Was bringt es, zweimal im Jahr eine professionelle Zahnreinigung durchführen zu lassen und die restlichen Tage einen großen Bogen um Zahnbürste und Zahncreme zu machen? Die Zähne werden langsam, aber sicher verfallen und irgendwann gibt es anstatt des leckeren und knackigen Apfels nur Kürbissuppe. Von den Auswirkungen auf die sozialen Beziehungen mal ganz abgesehen: Wenn man bedenkt, dass eine Beziehung die Summe der erfolgreichen Gespräche ist, dann dürften Gespräche mit einer solchen Person eher kurz ausfallen und – unabhängig vom Inhalt – meist auch nicht erfolgreich verlaufen.
Bei Scrum machen wir viele kleine Dinge, die für sich gesehen unspektakulär sind und isoliert betrachtet keinen großen Impact haben. Wie das Zähneputzen funktioniert Scrum nur, wenn es täglich gemacht und gelebt wird. Das Besondere erwächst aus dem konstanten Tun des Kleinen! Wir treffen uns vorbereitet zum Daily, um die Zusammenarbeit zu synchronisieren, das Planning ist mit einem priorisierten Backlog vorbereitet, im Review sind die Scheinwerfer auf das Team gerichtet und das Team kann live zeigen, welche tollen Sachen es umgesetzt hat, im Pre-Planning wurden User Storys sauber geschrieben und durchgehend geschätzt, der Product Owner hat eine inspirierende Produktvision und in der Retro wird die „Prime Directive“ gelebt.Darüber hinaus werden die Werte und Prinzipien gelebt und alles unternommen, damit Dysfunktionen im Scrum-Team identifiziert, bearbeitet und aufgelöst werden. Die vielen Kleinigkeiten, immer und immer wieder durchgeführt, machen Scrum so besonders. Auch wenn es schwerfällt und der Terminkalender voll ist, ist es immens wichtig, dieses Durchhaltevermögen zu zeigen und den Rhythmus aufrecht zu halten.
Ich habe ein Jahr im Mittleren Westen der USA gelebt. Es ist eine Region, die heiße Sommer – fast wie in Nordafrika – kennt und im Winter regelmäßig Schneestürme, sogenannte Blizzards, erlebt. An meiner High School war ich Teil eines hervorragenden Leichtathletik-Teams, das eine unglaubliche Siegesstrecke über mehr als ein Jahrzehnt erlaufen, erworfen und ersprungen hat. Als ich dort war, zog einer dieser Blizzards aus der Arktis herunter.Die Temperaturen lagen irgendwo bei -10°C, es wehte starker Nordwind, und bei schwerem Schneefall sammelten sich schnell 40 Zentimeter Neuschnee. Natürlich haben einige unseren Trainer gefragt, ob wir heute das Training mal ausfallen lassen können. Die Antwort unseres Trainers war unmissverständlich: Er sagte, dass es genau diese Tage seien, die uns besser machen. Diese Tage seien es, die dazu führen, dass wir immer etwas schneller laufen, etwas weiter oder höher springen und etwas weiter werfen, weil wir unseren Rhythmus beibehalten und gemeinsam den Widrigkeiten trotzen.Zugegeben, der sportliche Mehrwert dieses Trainings war überschaubar. Dass ich diese Trainingseinheit nach mehr als zehn Jahren noch immer nicht vergessen habe, zeigt den mentalen Einfluss. Wir wussten genau, dass wir keine Rahmenbedingungen fürchten mussten, und egal was kommen würde: Wir würden immer unser Ding durchziehen. Im Mai, bei den wirklich wichtigen Wettkämpfen, konnte es nur einfacher werden. Ich bin fest davon überzeugt, das genau daraus das Champion-Gen erwächst, mit dem Spitzensportler „die engen Kisten“ für sich entscheiden.Durchhaltevermögen schlägt alles – ob bei einem Blizzard im mittleren Westen, morgens vor dem Spiegel oder in einem agilen Projekt!Foto: pixabay license, stevepb