Kennst Du diese Situation? Du kommst als ScrumMaster in ein bestehendes Team. Möglicherweise arbeiten die Kolleg:innen schon lange miteinander, nur die agile Arbeitsweise ist neu für sie. Typischerweise werden neue ScrumMaster in solchen Situationen mit einer gesunden Portion Skepsis begrüßt.
Hol die Skeptiker:innen von Beginn an mit ins Boot, denn skeptische Teammitglieder haben in der Regel tiefes Wissen über etablierte Methoden und Prozesse. Nutze das! Denn sie wissen meist auch um Schwachstellen im System und haben oft bereits einen großen Fundus an Verbesserungsmöglichkeiten identifiziert. Auch, wenn du diese Informationen zu Beginn als harten Widerstand wahrnimmst, sage ich dir aus meiner Erfahrung: Freu dich, dass sie mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg halten. Sei offen und nutze das Feedback, das dir gegeben wird. Genauso war meine Erfahrung mit Rainer.
Rainer ist 58 Jahre alt, arbeitet seit über 25Jahren in der Finance-Abteilung eines mittelständischen Unternehmens und hat sich über die Jahre tiefes fachliches Wissen erarbeitet. Seit fast zwei Jahren kommuniziert er pandemiebedingt ausschließlich virtuell mit seinen Kolleg:innen über MS Teams. Dazu kommen neue Kollaborations-Tools, wie Miro und Jira. Das allein stellt bereits eine große technische Herausforderung dar, die Rainer meistern muss. Jetzt kommt mit Scrum noch eine Methodik dazu, die das, was er bislang kannte (und konnte) auf den Kopf stellt. Rainer ist schlicht überfordert und fühlt sich nicht ausreichend kompetent, um sich den veränderten Anforderungen zu stellen. Das Resultat: Skepsis und Widerstand. Ich brauchte einige Zeit, um zu realisieren, dass Rainers Nicht-Wollen aus Nicht-Können resultierte. Als ich die Ursache seines Widerstands einordnen konnte, fiel es mir leichter, konkrete Maßnahmen zu finden, die unsere Zusammenarbeit nachhaltig verbessern sollten:
In meiner Erfahrung ist es sehr hilfreich, Beziehungen mit Verbündeten aufzubauen. Gleiches gilt auch (und vielleicht besonders) für Menschen im Widerstand. Du kannst nur verstehen, wo das Nicht-Können der Menschen liegt, indem du mit ihnen sprichst, das Gehörte als Feedback annimmst und ihnen wieder zu mehr Kompetenz verhilfst.
Meine Erfahrung zeigt, dass sich Skeptiker:innen am leichtesten durch sogenannte Quick Wins überzeugen lassen. Zu diesen Quick Wins zählt vor allem das Lösen von Impediments. Du siehst, dass Meetings unstrukturiert verlaufen und die Timebox regelmäßig überschritten wird? Dann kannst du zum Beispiel für jedes Meeting eine Agenda erarbeiten und sie bereits in der Einladung mit dem Team teilen. Im Meeting selbst sorgst du dafür, dass der Austausch fokussiert bleibt und am Ende ein Ergebnis erzielt wird. Wichtig ist: Dein Team muss erkennen, dass du als ScrumMaster einen Mehrwert stiftest und nicht einfach nur auf die Einhaltung von Prozessen und Methoden pochst. Hilfreich ist auch das Stellen wirkungsvoller Fragen, wie sie meine Kollegin Lucy Larbi in ihrem Blogbeitrag „12 Weisheiten, Tipps und Links eines ScrumMasters“ darstellt. Mit klugen Fragen unterstützt du dein Team z. B. dabei, neue Perspektiven zu finden und dadurch schneller in die Problemlösung einzusteigen.
Jeden Montag gab es von mir ein kurzes Video, in dem ich die für unser Team wichtigsten Funktionen unserer digitalen Tools erklärt habe. Mittlerweile sind alle so fit, dass sie sich bei Ad-hoc-Problemen gegenseitig helfen und neue Nuggets nur noch selten nötig sind.
Ich biete gerne kurze wöchentliche „Agile Coffee Breaks“ an. Bei diesem 30-minütigen Format kommen Menschen zusammen, die mehr über die agile Arbeitsweise und deren Prinzipien und Werte wissen möchten. Zu Beginn gebe ich meist einen kurzen Impuls, aus dem sich bestenfalls ein angeregter Austausch ergibt. Wie bei allen Terminen im agilen Kontext, ist auch die Teilnahme an der agilen Kaffeepause freiwilllig.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass manchmal diejenigen Teammitglieder in den Widerstand gehen, die sehr tiefe Fachexpertise besitzen. In vielen Organisation ist Wissen nach wie vor statusrelevant und wird daher ungern geteilt. Wissenstransfer ist jedoch essenziell, wenn Teammitglieder „t-förmige“ Fähigkeiten aufbauen sollen, um einander zu unterstützen. In einer solchen Situation ist es hilfreich, Fachexpert:innen zunächst in ihrem Status zu bestärken. Sie müssen wissen, dass niemand ihnen ihr Wissen und den damit verbundenen Stellenwert wegnehmen möchte. Gleichzeitig bespreche ich mit ihnen die Konsequenzen ihrer „Wissenssilos“. Oft ergeben sich Dinge wie:
Dem gegenüber stehen die Vorteile von geteiltem Wissen, wie zum Beispiel:
Meist reift in diesen Gesprächen die Erkenntnis, dass es vor allem für den oder die Fachexpert:in selbst einen großen Nutzen stiftet, wenn das Wissen auf mehrere Köpfe verteilt wird. Zusammen erarbeiten wir dann Lösungsvorschläge für das Teilen von Wissen, die wir im Anschluss gemeinsam mit dem Team besprechen. Dieses Gemeinsam-an-einem-Strang-Ziehen baut Vertrauen auf und schafft gleichzeitig Verbindlichkeit.
Ich habe erkannt: „Widerstand ist Feedback“
In fast jedem Team wird es auch Menschen geben, bei denen du Widerstand spürst, der über gesunde Skepsis hinaus geht. Das ist zunächst den meisten von uns unangenehm. Aber ich weiß aus Erfahrung: Widerstand ist Feedback. Widerstand zeigt uns, wo unsere Ideen an die Grenzen bestehender Strukturen stoßen. Und: Widerstand ist oftmals kein Zeichen von Nicht-Wollen, sondern ein Indiz für Nicht-Können. Viele Menschen fühlen sich schlicht überfordert ob der Flut an neuen Informationen, Methoden und Erwartungen, die die Einführung agiler Frameworks mit sich bringt.
Natürlich gibt es keine Garantie dafür, dass diese Strategien immer von Erfolg gekrönt sind. Du wirst es auch erleben, dass Menschen im aktiven Widerstand bleiben, der auch mal an Arbeitsverweigerung grenzen kann. Mein Tipp: Konzentriere in einem solchen Fall deine Energie und Aufmerksamkeit auf die, die wollen. Der Rest wird mit großer Wahrscheinlichkeit entweder folgen oder sich außerhalb des Teams einen neuen Wirkungsbereich suchen.
Die Menschen, die von Beginn an begeistert sind von den Möglichkeiten, die das neue Framework mit sich bringt, sind dein Kapital. Mit ihnen solltest du frühzeitig Allianzen schließen. Am einfachsten geht das, indem du eine persönliche Beziehung aufbaust. Wenn dir die Early Follower unter den Teammitgliedern auffallen, dann verabrede dich mit ihnen zu (virtuellen) Kaffeepausen. Für diese setzt du am besten einen informellen Rahmen, damit nicht das Gefühl einer „Statusberichterstattung an den neuen ScrumMaster“ aufkommt.
Gelingen kann das z. B., indem du eine Dauer von weniger als 30 Minuten ansetzt und keinen festen Fragenkatalog mitbringst, sondern einfach lockere Konversation betreibst, um dein Gegenüber auf einer persönlichen Ebene kennenzulernen. Es ist hilfreich, wenn du dich nahbar machst und den einen oder anderen privaten Fakt von dir teilst.
Nutze die Motivation deiner Verbündeten, um mit ihnen dein Wissen rund um die agile Arbeitsweise im Team zu teilen und nach und nach die agilen Werte zu festigen. Ihre Begeisterung für diese neue Art des Arbeitens kann andere mitreißen und damit den Abbau von Widerständen fördern.
Welche Erfahrungen hast du mit neuen Teams gemacht? Gibt es Tipps und Tricks, die du mitteilen möchtest? Dann hinterlasse mir gerne einen Kommentar.
Titelbild: Andrew Moca, Unsplash