Was genau ist anders, wenn agil gebaut wird? Was ist der Paradigmenwechsel? Mit den folgenden 11 Fixpunkten beantworte ich diese Fragen und zeige auf, dass agiles Bauen heute möglich ist.
Nehmen wir beispielsweise die Entwicklung und Erschließung neuer Stadtquartiere her: Zunächst wird das Gelände erschlossen und die Versorgungs- und Verkehrsinfrastruktur angelegt, bevor nach und nach die Gebäude entstehen. Niemand käme auf die Idee, mit der Erschließung zu warten, bis alle Gebäude des neuen Viertels fertig geplant sind, da man nur unnötig Zeit verlieren würde. Übertragen auf einzelne Gebäude heißt das: Das iterative und inkrementelle Vorgehen ist jetzt schon als fester Bestandteil der gängigen Baupraxis zu erkennen und zwar an der frühzeitigen Ausführung von Rohbau, Erschließungs- und Versorgungskernen, lange bevor der spätere Mieter-Ausbau festgelegt wird.
Bei der Realisierung von Bauprojekten sind die aufeinanderfolgenden Phasen tief in unseren Denk- und Handlungsstrukturen verankert, nämlich eindeutig getrennt als Planung und Bauausführung. In Zeiten von Building Information Modelling (BIM) und Rapid Prototyping ist dieses Wasserfallmodell obsolet. Beim agilen Bauen werden die aufeinanderfolgenden Phasen von Planung und Bauausführung in vielen kurzen Zeiteinheiten von wenigen Wochen, sogenannten Sprints, immer wieder komprimiert. Das heißt, an Stelle einer langwierigen Planungs- und einer davon getrennten Umsetzungsphase gibt es viele Sprints. Am Ende eines Sprints steht immer eine Lieferung. Was die Vollständigkeit und Qualität der Lieferung angeht, wird kein Unterschied gemacht zwischen digitalem Bauen, Prototyping und realem Bauen. Das heißt, Auftraggeber und Nutzer können sich ein genaues Bild von der Lösung machen und fundiertes Feedback geben. Um das zu verdeutlichen: Schon im ersten Sprint entsteht ein BIM-Model, das die gesamte Bauaufgabe abbildet. Die tiefere Ausarbeitung ist auf die wesentlichen Bauelemente beschränkt.
Zu Beginn eines Bauprojektes, direkt nach der Gründung des Projektteams aus Auftraggeber und realisierenden Unternehmen, wird schon im ersten Sprint ein schlüsselfertiges Bauwerk geliefert: zunächst in einer Basisausbaustufe als sogenanntes Minimum Viable Product (MVP) in digitaler Form. Im Zuge weiterer Sprints wird dieses digitale Bauwerk dann auf Basis von Kunden- und Nutzerfeedback verbessert, weiterentwickelt, ergänzt und überarbeitet. Von Iteration zu Iteration entsteht so ein stetiger Wertzuwachs für Investoren und Nutzer.
Wenn sich nach einigen Sprints herauskristallisiert, dass sich bestimmte Parameter und Bauteile nicht mehr verändern, sondern trotz der Änderungen und Bewegungen, die das Bauwerk von Sprint zu Sprint durchläuft, konstant bleiben, dann haben diese Bauteile oder Parameter eine solche Reifestufe erreicht, dass der Wechsel vom digitalen ins tatsächliche Bauen erfolgen kann. Gebaut wird also nicht erst nach Abschluss der Planungsphase, sondern als Bestandteil einer kontinuierlichen Lieferphase. Zunächst wird digital gebaut und dann werden sukzessive immer mehr Bestandteile des Gesamtprojektes ins reale Bauen überführt. Ziel dieser Vorgehensweise ist, dass beispielsweise Tragkonstruktion und Schnittstellen (Wand- und Deckenaussparungen) früh festgelegt werden, um in die Umsetzung zu kommen. Damit dies funktioniert, müssen die Schnittstellen möglichst groß und kompatibel sein, damit bei späteren Arbeiten, z. B. für die Gebäudetechnik und im Innenausbau, keine Änderungen der bereits festgelegten oder schon ausgeführten Konstruktionen notwendig sind.
Das Risiko, bei der Realisierung eines Bauprojekts Fehler zu machen, die teuer korrigiert werden müssen, sinkt beim agilen Bauen erheblich. Durch das iterative Arbeiten mit vielen Feedbackschleifen steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das, was sich trotz ständiger Anpassungen und Veränderungen als Konstante herauskristallisiert, wirklich Bestand hat. Sich festzulegen ist somit mit deutlich weniger Risiko verbunden als bei der klassischen Vorgehensweise. Es geht darum, die Kosten späterer Änderungen zu minimieren, indem mögliche Nutzungsszenarien durch häufiges und frühes Feedback bei der Umsetzung bereits berücksichtigt sind.
Beim iterativen Arbeiten werden deutlich mehr Feedbackschleifen durchlaufen, als es in der klassischen Phasenlogik (erst Planung, dann Umsetzung) möglich wäre. Im schlechtesten Fall lassen sich in den klassischen Planungsphasen die Feedbackschleifen an einer Hand abzählen. Beim agilen Bauen wird in Ein- oder Zwei-Wochen-Sprints gearbeitet, die jeweils mit einer Feedbackrunde abgeschlossen werden. Daraus ergeben sich nach nur drei Monaten mindestens sechs bis zwölf Iterationen und damit eine deutlich höhere Feedback-Frequenz. Feedbackgeber sind insbesondere Auftraggeber, Nutzer oder Vertreter und Vertreterinnen potentieller Nutzergruppen und Betreiber des Bauwerks.
Das Realisierungsteam ist ein crossfunktionales, lieferfähiges Team von Fachleuten der ausführenden Unternehmen. Dieses Team ist für die praktische Umsetzung des Bauprojekts verantwortlich und muss deshalb auch in die Planung eingebunden sein. Ein klarer vertraglicher Rahmen, die transparente Kommunikation von Projektvision und Projektzielen und die Orientierung an den Nutzerbedürfnissen stellt sicher, dass das Realisierungsteam ein gemeinsames Ziel vor Augen hat. Gefördert wird die Zusammenarbeit innerhalb des Realisierungsteams durch zeitgleiches Arbeiten am selben Ort und durch digitale Zusammenarbeitstools.
Um die Projektziele zu erreichen, müssen alle wesentlichen, für den Projekterfolg notwendigen Projektbeteiligten im Boot sein, sodass diese wie ein einziges Unternehmen agieren. Dafür schließen sie einen Mehrparteien-Allianz-Vertrag bzw. IPA-Vertrag, der u.a. Vereinbarungen zur Zusammenarbeit, zu Zielkosten und zum Umgang mit Chancen und Risiken enthält.
Der Aufsatz des Projektteams und das Vertragswerk des Lean IPD sind eine wichtige Grundlage für Agiles Bauen. Lean IPD steht für die Verbindung von Lean Management Prinzipien mit einem kollaborativen, abgestimmten Team und einer Vertragsstruktur, die die Ergebnisse von Bauprojekten verbessert . Durch das Arbeiten in Sprints fällt die im Lean IPD übliche Unterscheidung in Vorbereitungs- (Pre-Validation), Bewertungs- (Validation) und Ausführungsphase weg. Stattdessen werden diese Phasen beim agilen Bauen immer wieder innerhalb kurzer Sprints durchlaufen, zunächst digital und im späteren Projektverlauf real. Lean IPD wird beim agilen Bauen daher zu Agile IPD.
Bevor das crossfunktionale Umsetzungsteam aufgesetzt wird, erhebt der Auftraggeber, auch als Immobilienentwicklungsteam bezeichnet, den Bedarf der zukünftigen Nutzerinnen und Nutzer im Nutzerbedarfsplanungs-Workshop. Im Vergabeworkshop wird danach das Projektteam, bestehend aus Immobilienentwicklungsteam und Realisierungsteam, gegründet und Regeln der Zusammenarbeit vereinbart. Mit dem Vergabeworkshop fällt der Startschuss für das iterative Arbeiten (siehe Punkte 2–6).
Dank der Zusammenarbeitskultur und dem Vertragswerk der Integrierten Projektabwicklung (IPA), dank digitalen Kollaborationstools und digitalen Gebäudemodellen aus dem Building Information Modelling und durch das iterative und inkrementelle Arbeiten in Sprints mit häufigen Feedbackschleifen wird agiles Bauen heute denkbar und umsetzbar. Lassen Sie uns gemeinsam darauf hinarbeiten, dass agiles Bauen zum Standard für eine schnellere, zuverlässigere und partnerschaftliche Art der Baurealisierung wird.
Mehr rund um agiles Bauen, iteratives Liefern und eine partnerschaftliche Zusammenarbeit in Bauprojekten finden Sie auf unserer Webseite „Agiles Bauen“ und im Blog. Kontaktieren Sie uns auch gerne direkt oder nehmen Sie an einem Training teil.Bild: Pexels License, Pixabay