Nach mehr als zehn Jahren in sehr unterschiedlichen Unternehmen habe ich eigentlich nur eine Führungsperson erlebt, die sich intensiv auf mein Jahresendgespräch vorbereitet hat. Ich war überrascht, wie viel sie doch mitbekommen, wie aufmerksam sie zugehört und bewusst beobachtet hatte. Ich fühlte mich anerkannt und gesehen und bin viel motivierter in das neue Jahr gestartet. Aber leider war diese Person die Ausnahme. Andere Führungskräfte hatten mehr oder weniger gute Gründe, warum so ein Gespräch entweder gar nicht oder nur pro forma – ohne wirklichen Wert für mich oder das Unternehmen – stattfand: „zu viel zu tun“, „zu wenig Zeit“ oder „thematisch zu weit entfernt“.
In manchen Organisationen nennt man es Leistungsgespräch, Jahresgespräch oder einfach Mitarbeiter:innengespräch. Der Inhalt ist meistens gleich: Mitarbeitende und Führungspersonen kommen zu zweit zusammen und sprechen über die Leistungen des vergangenen Jahres. Es geht darum, was erreicht wurde und was nicht. Es geht um Selbsteinschätzung und Fremdeinschätzung zum Verhalten und zur Leistung des oder der Mitarbeitenden.
Das Problem: In vielen Fällen ist die Führungsperson aufgrund der hohen Führungsspanne weit weg vom Aufgabengebiet des oder der Mitarbeitenden. Ein geeignetes Feedback und eine Einschätzung abzugeben, ist für sie entweder mit mühsamer Arbeit verbunden oder de facto unmöglich.
Bei borisgloger habe ich eine andere Form des Mitarbeiter:innengesprächs kennengelernt: eine kollegiale Fallberatung mit Hilfe von Appreciative Inquiry, in der ich gemeinsam mit ausgewählten Kolleg:innen das Jahr reflektiere und neue persönliche Entwicklungsziele finde. Dabei fokussieren wir darauf, was ich bereits gut kann und wovon ich begeistert bin. Denn in den Aufgaben, die mich motivieren, finde ich die Fähigkeiten, die ich stärken will, und darauf will ich meinen Blick richten. Durch diese Gespräche habe ich erlebt, wie sich meine Haltung verändert: Ich lege den „Defizitblick“ ab und achte bewusst darauf und erkenne an, was ich gut mache und was mir Spaß macht.
Beim Appreciative-Inquiry-Ansatz liegt der Fokus auf den Stärken (Potenzialorientierung). Diese Stärken sind in beispielhaften Erlebnissen zu finden, in denen Motivation, Energie und Freude aufgekommen sind. Indem wir diese identifizieren, können wir unsere Stärken bestmöglich und gewinnbringend für uns persönlich, das Team und die Organisation einsetzen und ausbauen.
Anders als bei traditionellen Jahresgesprächen findet dieses Gespräch nicht zwischen Mitarbeiter:in und Führungskraft, sondern unter Kolleg:innen statt und dauert pro Person 45 Minuten. Es gibt drei Rollen: Interviewte:r, Interviewer:in und Beobachter:in.
Nach dem Gespräch notiert sich die interviewte Person die Ziele und ihre nächsten Schritte. In vielen Unternehmen ist dieses Dokument verpflichtend und wird zur Nachverfolgung gespeichert. Wichtig ist, die Ziele nicht aus den Augen zu verlieren, und im laufenden Jahr die Zielerreichung kontinuierlich zu reflektieren und gegebenenfalls auch Anpassungen vorzunehmen.
Als ich das erste Mal in der Rolle der Interviewten war, fand ich es wirklich nicht leicht, mich nur darauf zu fokussieren, was mir Spaß macht und wovon ich gerne zukünftig mehr machen möchte. Ich war darauf konditioniert, meinen Blick nur auf das zu richten, was nicht gut läuft, was mir keinen Spaß macht und woran ich entsprechend arbeiten müsste. Meine Gesprächspartner:innen unterstützten mich dabei, meinen Blick umzulenken, und auch der vorab entwickelte Fragebogen half uns durch diesen Prozess. Am Ende war ich begeistert, wie viel nach 45 Minuten entstehen kann. Seither achte ich auch im Alltag stärker darauf, ob ich an Aufgaben Spaß habe und warum dies so ist.
Meiner Meinung nach können Organisationen das kollegiale Mitarbeiter:innengespräch mit Hilfe von Appreciative Inquiry als Instrument nutzen, um die Potenziale der Organisation auszuschöpfen und gleichzeitig Mitarbeitende in die Selbstverantwortung und Selbstverwirklichung zu bringen. Vermutlich kann es nicht in jeder Organisation das althergebrachte Jahresgespräch ersetzen, aber selbst dann lässt sich diese Form des Gesprächs zusätzlich zu den bereits etablierten und abgestimmten Instrumenten nutzen.
Probiert es einfach mal aus, und wenn ihr noch Fragen habt oder es auch in eurem Unternehmen einführen wollt, meldet euch gerne bei mir.
Titelbild: Antonio Janeski, Unsplash