Jürgen Margetich ist einer unserer Executive Consultants und Co-Autor von “Das Scrum Prinzip - Agile Organisation aufbauen und gestalten”. Bei seinen Kunden arbeitet Jürgen auf Vorstandsebene und begleitet Transformationen ganzer Unternehmensbereiche. Seine Kunden sind anspruchsvoll und haben gelernt, mit Beratern auf eine ganz bestimmte Art umzugehen. Unser Ansatz ist ein wenig anders und irritiert oft, denn wir verlangen, dass Führungskräfte selbst ins Tun kommen, statt alles an die Berater auszulagern. Welche Erfahrungen hat Jürgen bei der Arbeit im skalierten Umfeld gemacht?
BG: Jürgen, was macht dich zu einem besonderen Scrum/Agile Consultant und wie bist du überhaupt mit Scrum in Berührung gekommen?Jürgen: Scrum habe ich 2003 kennengelernt, als ich für ein anderes Beratungsunternehmen den Stage-Gate-Prozess eines Innovationsprojekts bei einem Telekom-Kunden begleitete. Die erste Begegnung hat mich etwas irritiert. Erst nachdem ich mich intensiver damit auseinandergesetzt hatte und wir zusammen das Scrum-Cooking für deine Trainings entwickelt haben, habe ich Agilität und Scrum für mich entdeckt.Seit 1998 bin ich als systemischer Management-Coach, Unternehmensberater und immer wieder auch mit eigenen Ideen und Unternehmen aktiv. Ich kenne das Ringen um Ideen und Erfolge aus beiden Perspektiven. Moderne Führung wie auch Beratung, systemisches Coaching und agile Organisation haben für mich eines gemeinsam: Sie bauen immer auf die Selbstorganisationskraft der Kunden bzw. Mitarbeiter und Kollegen, führen stark und lateral. Und darin konnte ich mich in den letzten Jahren gut üben. Erst kürzlich bekam ich in einer Session beim Kunden folgendes Feedback: “Du bist immer präsent, mit deiner ruhigen Ausstrahlung und Art führst du uns. Man merkt, du hast immer ein Bild vor Augen, einen Plan, und führst uns Schritt für Schritt. Und du gibst deinen Plan auch mal auf, um das zu übernehmen, was in der Gruppe entsteht, wenn es eher zum Ziel führt.” Das ist natürlich ein schönes Kompliment und ich freue mich, wenn ich so wahrgenommen werde.BG: Sag, wir bei borisgloger consulting arbeiten ja schon immer in großen skalierten Umfeldern. Aber was unterscheidet deiner Meinung nach die Arbeit in einem wirklich großen Umfeld von der Arbeit mit vielleicht 20 Personen?Jürgen: Die ersten Worte, die mir dazu in den Sinn kommen, sind “Complexity” und “Ambiguity”. Beide Worte sind Teile des jetzt so gängigen VUCA-Begriffs (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity). Zuerst zur Komplexität: Eine Organisation wie ich sie begleite und berate, mit mehreren Hundert bis mehreren Tausend Mitarbeitern, ist meist durch sehr heterogene Aufträge und Arbeitsfelder sowie oft intransparente Abhängigkeiten geprägt. Da geht es nicht um ein Projekt oder um ein Programm, sondern um Hunderte, wobei die Linienaufgaben noch gar nicht berücksichtigt sind. Wer da noch glaubt, er könnte mit einem Federstrich die Richtung weisen oder in einer One-Man-Show auftreten, wird an der Trägheit der Masse verpuffen. Systemisches Wirken und stringentes Kommunizieren sind da die Schlüssel. Kommunizieren im Sinne eines verändernden und veränderten Teilhabens an der Kommunikation der Organisation, damit letztlich die richtigen Gespräche und mit diesen die richtigen Handlungen stattfinden können.Der zweite Begriff drängt sich aus dem ersten fast zwingend auf. Ambiguität - die Mehrdeutigkeit. Jeder Inhalt hat in diesem komplexen System fast jede mögliche Intention (polititsch, fachlich, individuell, emotional ...). Es lässt sich nicht mehr die eine Wahrheit über ein Phänomen oder eine Situation festhalten. Damit wird das Arbeiten mit vielen gleichzeitigen Wirklichkeiten - also mit der Mehrdeutigkeit - zur Kernkompetenz in der Beratung. Und wieder bedeutet das in letzter Konsequenz, sich als Katalysator für den Kommunikationsprozess einzubringen. Direktives oder deterministisches Denken ist hier noch hinderlicher als in kleineren Gruppen.Wichtig ist auch zu verstehen, dass wir in kleinen Projekten hierarchisches Denken und Wirken noch gut unter dem Deckmantel “agil” verstecken können. Man tut halt ein bisschen agil. Je größer das System desto offenkundiger werden die Fakes und umso destruktiver ist auch Fehlverhalten auf allen Ebenen. Es ist einfach mehr Masse unterwegs - mehr Kommunikation. For the good or the bad of it.BG: Du arbeitest ja nach unserem Transition Team Modell. Was unterscheidet deinen Ansatz, mit Kunden zu arbeiten, von den Skalierungs-Frameworks LeSS, Nexus und SAFe? Wie sehr hilft da unser eigenes Modell?Jürgen: Fangen wir mal mit SAFe an. Da gibt es die größte Entfernung zu unserem Modell. Gerade unsere Konzernkunden werden anfangs von SAFe angezogen - kommt einem ja auch bekannt vor. Am Ende aber macht es zu wenig Unterschied und hilft nicht, vom Organisieren ins Machen und Liefern zu kommen. Doch wenn wir eines brauchen, dann ist das eine nachhaltige und kontinuierliche Lieferorientierung. Ganz gleich, ob wir an Produkten oder einer Organisation arbeiten.Unser Ansatz ist a) werteorientiert und b) fokussiert. Beides ist in meiner Arbeit entscheidend. Ja, man kann den Methodenkoffer mit Checklisten, Anleitungen und Detailrollen vollpacken. Aber am Ende bleibt die Frage: “Haben wir uns mit den richtigen Prioritäten beschäftigt und sie erfolgreich umgesetzt? Oder sind wir im drüber Nachdenken verblieben?” Erst letzte Woche hatten wir in einer Arbeitsgruppe eine Entscheidung zu treffen: Wollen wir die restliche Zeit darüber sprechen, wie das Konzept auszusehen hätte, was man machen müsste? Oder bauen wir einen Prototypen, mit dem wir in die Kommunikation und Verprobung in der Organisation gehen? Wir haben uns für den Prototypen zur Kulturveränderung entschieden, wir bekamen sofort Feedback und einzelne Leute haben das “Produkt” mit in ihre Teilorganisationen genommen.Keine Frage, jedes Vorhaben braucht einen angemessenen Plan, ein strukturiertes Vorgehensmodell und die richtigen Werkzeuge. All das muss so eingebracht werden, dass es den Blick auf das Wesentliche nicht verstellt, sondern fokussiert und unterstützt. Unser Ansatz macht das.BG: Bei einer agilen Transition gibt es einige Dinge zu beachten, aber was sind deiner Meinung nach ein oder zwei besonders wichtige Dinge? Welche Tipps kannst du uns geben?Jürgen: Die erste Sache wäre “Leadership bottom up”. Erst wenn Mitarbeiter anfangen, ihre Sprache und ihre Kommunikation mit Vorgesetzten und Experten zu verändern, beginnt die wirkliche Transition. Ein Beispiel: Management und Squad-Team eines Kunden hatten vereinbart, dass das Team jede Entscheidung trifft. Nun kam es zum Review-Meeting. Das Team präsentierte seine Entscheidungen, aber mit welcher Handlungsaufforderung an das Management?
Lesen Sie das nochmal in Ruhe durch. Diese Formulierung hält den Frager (das Team) über den ganzen Dialog eindeutig in der Entscheiderrolle und weist dem Management eine Servicerolle zu (mit der Frage nach wichtigen Hintergrundinformationen). Wir haben das mit Management und Team so aufgesetzt und es war ein Schlüsselmoment. Hier kann man Monate der agilen Transition verstärken oder schwächen - durch einen Satz.Der zweite Aspekt, auf den man achten sollte, ist mit den Träumen und Tabus aller Beteiligten sorgsam umzugehen. Was bedeutet das? Gerade “Agile” ist ein beliebtes Trägerboot für alle möglichen Bestrebungen und Anliegen geworden. Achten Sie darauf, dass die verschiedenen Themen dort behandelt werden, wo es sinnvoll und förderlich ist. Führungsschwäche löst sich nicht mit Agile auf und auch ein Kompetenzmangel wird nicht automatisch kompensiert.
BG: Lieber Jürgen, ich danke dir für unser Gespräch. Ich wünsche dir weiterhin viel Erfolg für deine Projekte!
Würde mich freuen, wenn ich euch auf mein neues Buch “Scrum Think b!g - Scrum für wirklich große Projekte, viele Teams und viele Kulturen” neugierig gemacht habe.