Darum erfordern neue Marktbedingungen im Handel ein neues Organisationsdesign

Viele historisch gewachsene Handelsorganisationen stehen gerade vor ihrer Transformation. Warum ist das so?

Um diese Frage zu beantworten, lohnt ein Blick in die Entwicklung der Märkte, denn Märkte sind Umwelt und damit Kontext der Handelsorganisationen und konditionieren damit die Art und Weise, wie sich Strukturen und Prozesse in den Organisationen passfähig ausbilden sollten. 

All unsere Erkenntnisse im Rahmen der Betriebswirtschaftslehre, auch die Idee, wie Unternehmen strukturiert und organisiert werden sollten, sind erfunden worden, wo ein global ungesättigter Markt vorherrschend war. Das war bis ca. 1980 der Fall. Dieser Markt wies bestimmte Charakteristika auf, die heute zumindest zu hinterfragen sind. Kunden oder Käufer hatten in dieser Phase relativ wenige Möglichkeiten Produkte und Services zu erwerben. Nehmen Sie nur das Beispiel des Kaufens eines Kleidungsstückes. Da waren die Verkaufsstätten in der Nähe des Wohnortes oder es gab Kataloge von einigen wenigen Anbietern, vor allem von den Vollsortimentern wie OTTO, Quelle oder Neckermann. Handelsorganisationen haben sich auf diesen Fakt eingestellt. Es war aus Sicht der Organisationen klar was getan werden musste. Es musste eben nur kostengünstig und schnell erfolgen. Auf Kunden musste nicht fokussiert werden, da diese ja sowieso aufgrund fehlender Alternativen bei den wenigen Handelsorganisationen gekauft haben. 

So ist dann auch die Idee entstanden, Spezialisten, also Einkäufer, Vertriebler, Logistiker etc. in separate Expertenteams zu verorten. Das Herbeiführen lokaler Optima in diesen Expertensilos war oberstes Gebot. Auf Wertströme vom Kunden hin zum Kunden wurde kein Wert gelegt, sie wurden durch das Schaffen dieser Expertensilos gar regelmäßig durchtrennt und damit zerstört, weshalb Verantwortungslosigkeit gegenüber Kunden manifestiert wurde. Das war zu den Zeiten auch okay, wurde also vom Markt nicht bestraft, da dieser nicht oft erkundet werden musste, weshalb wir auch von einem Verkäufermarkt sprechen können. 

Mit der Weiterentwicklung von Technologie und der gleichzeitig stattgefundenen Globalisierung wurde der Optionsraum an Handlungen für Kunden sukzessive größer. Märkte wurden aus Sicht der Verkäufer gesättigter. Kunden konnten und können jetzt nicht nur in einem größer werdenden vernetzten Raum, siehe Onlineshops und -plattformen, konsumieren. Sie können jetzt auch noch Rezensionen zu Händlern und Produkten abgeben, die andere Käufer beim Kauf beeinflussen. Nun ist viel häufiger ein Beobachten und Erkunden der Märkte seitens der Handelsorganisationen essentiell. Durch das vorherrschende Organisationsdesign, welches in der Phase der Verkäufermärkte entwickelt wurde, wo es ausschließlich um das Heben von Kostensynergien und nicht um Kundenfokussierung geht, haben Menschen in Unternehmen gelernt, sich hauptsächlich um interne Dinge zu kümmern. Handelsorganisationen sind heute immer noch vorrangig nach innen ausgerichtet. Das erkennt man beispielsweise am immer größer werden von zentralen Funktionen, die mittlerweile nicht nur die marktferneren Tätigkeiten, wie Finanzbuchhaltung oder Controlling übernommen haben, sondern auch immer mehr marktnahe Tätigkeiten, wie Sales, Marketing oder auch den Einkauf. Immer nach dem Motto: „Einmal etwas herstellen und n-mal nutzen!“ 

Da die Märkte sich mittlerweile wie beschrieben von Verkäufer- zu Käufermärkten gewandelt haben, setzen die oben beschriebenen Mechanismen der Märkte Handelsorganisationen unter Stress. Jetzt passen die Strukturen und Prozesse, die für Verkäufermärkte noch passfähig waren, nicht mehr. Es werden Strukturen und Prozesse benötigt, die ein Erkunden der Märkte zulassen, die es Menschen in den Handelsorganisationen ermöglicht, adäquat auf Überraschungen der Märkte reagieren zu können und die das Generieren von Überraschungen für Märkte zulässt.  

Die Dynamik der Märkte ist gestiegen, was das Rufen nach neuen Strukturen und Prozessen in den Handelsorganisationen immer lauter werden lässt. Zu erkennen ist das an der Zunahme von Transformationsinitiativen in den Handelsorganisationen, vor allem in denen, die auf eine langjährige ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken können. 

Die oben beschriebenen veränderten Marktbedingungen erzeugen nun Herausforderungen für Handelsorganisationen, die sich in 4 Kategorien einteilen lassen.

  1. Technologie-Firmen entern die Märkte 
     
    Händlerkompetenz wird durch Technologiekompetenz abgelöst. Historisch gewachsene Handelsorganisationen sollten sich zu Technologieunternehmen wandeln. IT-Skills werden immer wichtiger. Jedoch sind die Handelsorganisation eher weniger Anlaufpunkt für IT Experten in den Bereichen Data Science, KI, Datenmanagement, IT Architektur etc., die hier wohl eher bei Amazon, Google oder anderen IT Firmen jobtechnisch fündig werden. Hier bedarf es beispielsweise pfiffiger, ausgefallener und vielleicht irritierender Recruitingmaßnahmen dieser Handelsorganisationen, um sich nach außen ein neues Bild zu verpassen, um dadurch anziehender für IT Experten zu sein. 
     
    Technologie bestimmt und treibt in der heutigen Zeit Geschäftsmodelle. In Handelsorganisationen werden Use Cases oft aus der Vergangenheit heraus betrachtet und greifen deshalb oft nicht weit genug. Technologiefirmen ohne diese Händlervergangenheit denken Use Cases in Machbarkeit aus Technologiesicht heraus und treiben so Innovation voran. Personalisierung und Individualisierung in Realtime von Onlineshops sind hier beispielsweise zu nennen. 
     
  1. Die Ansprüche der Kunden werden massiv größer 
     
    Wie oben beschrieben sprechen wir mittlerweile von Käufermärkten. Kunden haben eine enorm große Auswahl an Produkten und Services und eine große Optionsvielfalt diese zu beziehen. Kunden verlieren immer mehr die Geduld auf bestellte Produkte und Services tage- oder wochenlang zu warten. Stichwort Same Day Delivery. Kunden erwarten auch immer mehr eine passgenaue Ansprache und damit eine Verzahnung von Online- und Offlinewelt. Anwendungen und Features müssen immer mehr realtime-fähig gemacht werden. Das Transaktionsaufkommen in den IT-Systemen wird immer gewaltiger. 
     
    Die Frage, ob das Geschäftsmodell eines Händlers, der als „Mittelsmann“ (Einzel- oder Großhandel) zwischen Anbieter und Nachfrager fungiert, heutzutage immer noch relevant ist, oder ob dieser „Mittelsmann“ nicht durch IT oder andere Wertströme abgelöst werden kann und in naher Zukunft wohl auch wird, ist hier zu stellen. Shein aus China hat es vorgemacht und Temu verfolgt diesen Weg nun auch konsequent, wo direkt von der Produktion aus den Fabriken heraus verkauft wird (Manufacturing 2 Consumer). Dadurch müssen im Einkauf nicht mehr Wetten in die Zukunft eingegangen werden, welche Mode wohl in x Monaten en vogue ist. Nein, nun kann in kleinen Chargen entwickelt und produziert werden und dann direkt am Endkunden verprobt werden, in dem validiert wird, was gekauft wird und was nicht. Darauf brauchen Handelsorganisationen eine passfähige Antwort. 
     
  1. Daten werden immer wichtiger 
     
    In Handelsorganisationen sollte die Fähigkeit ausgebaut werden, Daten zu nutzen, um Kunden besser zu begreifen. Stichwort Datengetriebene Geschäftsmodelle. Denn gerade in Zeiten, wo Geschäftsmodelle immer mehr im Netz exekutiert werden, können Menschen nicht nach ihren Wünschen und Bedürfnissen befragt werden. Dazu sinkt auch das Aufmerksamkeitsfenster der Menschen immer mehr. Dementsprechend bedarf es passgenauer Angebote an Kunden, die oft individualisiert und personalisiert in Realtime ausgespielt werden müssen.  
     
    Datenschutz ist an dieser Stelle zu nennen. Umzusetzende Use Cases müssen stets DSGVO-konform umgesetzt werden. Das kostet Zeit und Aufwand und bringt oft einen Nachteil mit sich, vor allem gegenüber denjenigen Organisationen, die in Länder ansässig sind, wo Datenschutz nicht ganz so wichtig genommen wird. 
     
  1. Führungs- und Arbeitsmodelle aus der Händlerzeit sind überholt

    Wie oben ausgeführt lassen ein Organisationsdesign in Funktionen, wie Marketing, Einkauf, Vertrieb etc. ein Denken und Handeln in Wertströmen nicht zu. Definierte Verantwortlichkeiten in den Handelsorganisationen stehen orthogonal zu den User und Customer Journeys, was eine Kundenfokussierung und ein ganzheitliches Erkunden der Märkte schwierig werden lässt.
  1. In Handelsorganisationen hatte früher der Einkaufsbereich einen hohen Stellenwert, da enorm wichtig und geschäftsrelevant war, welche Produkte eingekauft und auf Lager gelegt wurden, um sie dann Wochen oder Monate später zu verkaufen. Diese notwendige Wirkmacht entfällt durch die Weiterentwicklung der Technologie. Das bedingt jedoch sehr häufig einen Kulturclash im sozialen Gefüge der Handelsorganisationen mit sich.  
     
    Des Weiteren entern immer mehr Organisationen aus Asien den Markt und setzen Handelsorganisationen aus Europa und Amerika unter Stress, da sie zum einen mit ganz anderen Regularien seitens Politik umgehen dürfen und zum anderen ihre IT-Landschaft gerade jetzt neu aufbauen können und deshalb auch keine IT-Schulden handhaben müssen.   

Sehen Sie ähnliche Entwicklungen in ihrem Umfeld und in Ihrer Organisation? Sind sie inmitten einer Transformation? Lassen Sie uns gerne diesbezüglich in Kontakt treten. Wir haben Lösungen parat, die in den kommenden Blogposts beschrieben werden.

Bildquelle: Tamas Tuzes-Katai auf Unsplash

Transformation
Retail
Conny Dethloff
June 12, 2023

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