Stellt euch Folgendes vor: Eine Krankenpflegekraft genießt jede Minute mit ihren Patient:innen und nimmt sich Zeit. Die Arbeit mit den Hotelgästen ist dem Selbstwertgefühl des Personals förderlich. Im Banking geht es nicht mehr darum, möglichst viel Geld zu Weihnachten als Bonus ausgezahlt zu bekommen, sondern es trägt dazu bei, unsere Welt vor der Klimakatastrophe zu bewahren.
Es gibt Beispiele, die beweisen: Menschen können sich “gesund arbeiten”. Das Unternehmen Buurtzorg geht völlig neue Wege in der Pflege – es gibt weder eine:n übergeordneten Chef:in noch ein kompliziertes System. Und Hotelmanager Bodo Janssen macht in Upstalsboom mit seiner Hotelkette alles anders, als wir es dem Klischee nach vom “ausbeutenden” Tourismussektor kennen: Der “Upstalsboom Weg” setzt auf persönliche Weiterentwicklung, selbstorganisierte Teams und faire Entlohnung.
Es gibt sie also: die Art von Unternehmen, in denen Mitarbeitende sich gesund arbeiten. Damit meine ich, dass sie dort die Möglichkeit finden, zu wachsen und sich selbst zu spüren.
Ist das die Aufgabe von Organisationen, in denen gearbeitet wird? Ich glaube: ja. Denn die meisten Menschen verbringen tagtäglich mehr als acht Stunden dort. Was machen diese Unternehmen anders? Sie geben die Rahmenbedingungen vor, damit Mitarbeitende und die gesamte Organisation über sich hinauswachsen.
Es ist doch so: Erst nehmen wir Kindern ihre Fähigkeit, sich selbst zu führen. Wir schreiben ihnen in Familie, Kindergarten, Sportverein und anderen Institutionen vor, wie sie sich zu verhalten haben. Wir zwingen sie in das verpflichtende Kindergartenjahr und – wenn es sein muss – auch mit Gewalt in die Schule. Dann haben sie in ihren Lehrjahren weiter zu gehorchen und so weiter. Gerald Hüther sagt es immer wieder: Wir machen sie zu Objekten unserer Ziele und Vorstellungen – und das ohne Unterlass. Selbst den Konsument:innen in ihnen sprechen wir gezielt und ausgefeilt durch Werbebotschaften an und die Politik will nur ihre Wahlstimme.
Ein Gedankenspiel: Stellt euch vor, die Stunden, die Menschen bei der Erwerbsarbeit aufwenden, werden nicht erduldet oder müssen “bezahlt” werden, damit man das Arbeiten aushält, sondern sie dienten vorrangig dem eigenen Wachstum.
Die Aufgabe einer Organisation ist es, dass Menschen sich gesund arbeiten.
Daneben müssen Organisationen im 21. Jahrhundert meiner Meinung nach auch die Aufgabe haben, unseren Planeten und damit unsere Lebensgrundlage zu erhalten. Beides geht nur, wenn Menschen beginnen, sich in den Organisationen selbst zu führen. Wie das funktionieren kann, habe ich vor Jahren gemeinsam mit meinem Freund Dieter Rösner im Buch “Selbstorganisation braucht Führung” beschrieben. So viel vorweg: Die Führung hat einen entscheidenden Einfluss darauf, ob die Selbstorganisation gelingt. Denn sie schafft mit den Werkzeugen und der Haltung den Nährboden für echtes persönliches Wachstum aller Mitarbeitenden.
“Selbstorganisation braucht Führung” zeigt deutlich, wie der Spagat aus den beiden Bedürfnissen “Verbundenheit” (wir sind soziale Wesen) und “Autonomie” (wir wollen uns als Subjekte spüren) gelingt. Das Buch zeigt, wie eine gemeinsame Ausrichtung durch freiwilliges Mitmachen und Selbstführung entsteht. Dabei zielen wir zwar auf die Haltung, der alles zugrunde liegt, ab – doch Haltung ohne Praxis wäre nutzlos, da sie keine Wirkung entfaltet.
Genau das können wir uns aber nicht mehr leisten, denn die Zeit läuft uns davon: Klimakrise, Burn-Out und Fachkräftemangel. Wir müssen jetzt ins Handeln kommen.
"Selbstorganisation braucht Führung – Die einfachen Geheimnisse agilen Managements" von Boris Gloger und Dieter Rösner – neue Auflage von Mai 2022, erschienen bei Hanser.
Titelbild: Timon Studler, Unsplash