Agilität ist wohl das größte Buzzword der neuzeitlichen Zusammenarbeitsmodelle geworden. Das liegt unter anderem an den großen Vorbildern. In jüngerer Zeit hat gerade die Bankenbranche Vorzeigemodelle hervorgebracht, wie beispielsweise das der ING und der Commerzbank. Das übt Druck auf die Entscheidungsträger:innen anderer Unternehmen der Branche aus à la: „Das ist der neueste Trend. Wenn wir da nicht mitmachen, bleiben wir auf der Strecke.“ Das Resultat ist ein Hype, der eine gute Idee zu einer Marketing-Strategie schrumpfen lässt.
Es ist nichts falsch daran, sich anzusehen, wie andere ihre Organisationen neu aufgestellt haben, um dynamischer, innovativer, erfolgreicher, nachhaltiger zu werden. Aber vergessen Sie dabei nicht, dass jedes Unternehmen anders ist und auch andere Ziele verfolgt. Etwas, das beim einen funktioniert hat, kann für andere nichts als Zeit- und Geldverschwendung sein. Und vor allem: Das, was Sie nach außen sehen und als agil wahrnehmen, ist vermutlich nur ein Bruchteil von dem, was an Arbeit reingesteckt wurde. Lassen Sie mich also das, was Agilität ist, auf das Wesentliche reduzieren, egal, ob Sie es nun agil oder sonst wie nennen: Pragmatismus.
Als ich erstmals agil zu arbeiten begann, ging ich durch zwei Phasen: In der ersten Phase erhielt ich viel theoretischen Input, überwand schnell meine anfängliche Skepsis und war begeistert von den Möglichkeiten des agilen Arbeitens. Ich blieb zwar Linienführungskraft, hatte mich aber parallel zu einem der ersten ScrumMaster im Konzern ausbilden lassen. Ich fühlte mich bereit, agil zu führen und andere zu „agilisieren“.
Aber erst in der zweiten Phase, der praktischen, als ich als ein Cluster-Lead – also eine Projektleitung mit mehreren agilen Teams – war, lernte ich, dass es gar nicht meine erste Aufgabe war, die Teams von oben herab agil zu machen. Meine erste Priorität musste sein, mich selbst zu einer modernen Führungskraft zu transformieren, die Agilität versteht (also selbst eine agile Haltung einnimmt und agil führt) und in der eigenen Organisation den Rahmen dafür schafft. Seither weiß ich: Agilität ist für Ihr Unternehmen wertlos, wenn sie nur eine Idee oder ein Koffer voller Methoden ist. Den Wert müssen Sie sich erst erarbeiten.
Seit ich selbst die Seiten gewechselt habe und Führungskräfte berate, sehe ich, wie sich meine eigene Geschichte immer wieder wiederholt: Die Idee von Agilität lässt zuerst mal die Herzen höherschlagen. Aber dann kommt die harte Realität und es wird klar: Agilität ist kein Wundermittel, das alle Probleme löst. Und schon gar nicht ist sie etwas, das Führungskräfte von oben anordnen können und Mitarbeitende alleine ausführen.
Das müssen sich Führungskräfte, Entrepreneurs undTransformationsverantwortliche in Unternehmen vor Augen halten, wenn sie ihre Organisation agil machen wollen und dabei den Aspekt der Organisationsentwicklung nicht hinter agile Methoden stellen:
Alle diese Punkte sind die Verantwortung der Entscheidungsträger:innen – Top-Management, Vorstand, Gründer:innen etc. –, die sie nicht delegieren können.
Das agile Manifest enthält die agilen Wurzeln schlechthin. Prüfen Sie Ihre Guidelines ganz pragmatisch darauf:
Konkret übertragen können Sie diese vier Sätze auf Ihr Unternehmen mit dieser Frage:
Wie und wo (in welchen Teams, welcher Abteilung etc.) leben wir im Unternehmen das agile Manifest oder Ansätze daraus schon?
Check-Frage 1
Wenn Sie eine oder mehrere Einheiten identifizieren, die schon in diese Richtung denken und arbeiten, sind sie ein guter Ausgangspunkt, um von dort aus weiterzugehen.
Bevor Sie versuchen herauszufinden, welche neue Vorgehensweise zu Ihrem Unternehmen passt, schauen Sie zuerst auf das, was bisher gut funktioniert und aktuell zu einer erfolgreichen Produktentwicklung und Marktpositionierung führt. In der Beratung verwenden wir dazu diese Pyramide (wobei die Form egal ist). Wichtig ist: Bewerten Sie alle Aspekte aus Ihrer internen Perspektive heraus. Bei so einem Assessment macht idealerweise ein repräsentativer Durchschnitt aller Mitarbeitenden im Unternehmen mit. Holen Sie sich dazu gegebenenfalls Unterstützung von Externen. So finden Sie heraus, was Sie bewahren und schützen sollten und was Sie verändern sollten. Die Check-Frage dazu lautet:
Wo stehen wir aktuell in den verschiedenen Dimensionen bezogen auf das, was wir erreichen wollen?
Check-Frage 2
Eine Detailbeschreibung jeder Ebene finden Sie in der „myScaled Agile“-Toolbox.
Wie sieht Ihre Wertschöpfungskette aus? Worin ist Ihr Unternehmen am besten und warum? Was sollten Sie unbedingt selbst machen und wo ist es sinnvoll, sich in einem Ökosystem von Unternehmen und Start-ups zu tummeln?
Hier ist der Fokus auf der Einzigartigkeit – Ihrem USP. Je klarer diese für alle im Unternehmen ist, desto eher können Sie sich damit auseinandersetzen, sie zu stärken. Mit der Antwort auf die Frage nach der Einzigartigkeit und dem Ergebnis aus dem Assessment von Punkt 2 können Sie beginnen, an einem Zielbild für Ihre IT-Landschaft, Produktentwicklungsumgebungen, Kommunikations-, Aufbau- und Ablaufstrukturen zu arbeiten. Davon hängen wiederum die Abläufe und Skills ab, die Sie benötigen, um Produkte auf den Markt zu bringen. Indem Sie alles an Ihrem USP ausrichten, versetzen Sie das Unternehmen in die Lage, ihn beizubehalten. Die Check-Frage zu diesem Punkt lautet:
Wie entstehen unsere Produkte? Was brauchen wir dafür?
Check-Frage 3
Wer sind unsere (End-)Kund:innen, wie nah sind wir an ihnen dran und in welchem Rhythmus? Darüber entscheidet sich zukünftig die Frage der Produktentwicklung. In Zeiten, in denen das Unternehmen indirekte Aufträge abarbeitete in der Hoffnung, dass ein Endkunde sie kauft, kam es zu einem „Hase-und-Igel-Spiel".
Nehmen wir als Beispiel den mittelständischen Unternehmenskunden einer Bank. Natürlich kann bei Digitalisierungsinitiativen von Banken die Geschäftsführung der Unternehmenskunden befragt und eingebunden werden. Oder viel schlimmer, die Bank überlegt sich alleine, was sinnvoll ist. In der Praxis werden viele Unternehmen die kaufmännischen Routine-Angelegenheiten über ihre Assistenzen abwickeln lassen. Kann eine Geschäftsführung dazu richtiges Feedback geben? Kann eine Bank aus deren Sicht denken?
Ich habe erlebt, wie viel Geld in die Digitalisierung solcher Prozesse investiert wurde und am Ende herauskam: Unternehmenskunden nutzen das nicht, weil diejenigen, die diese Abwicklung machen qua digitaler Berechtigung das gar nicht machen dürfen (z. B. fehlte der komplette Online-Zugriff auf das Konto und die Vollmacht). Ergo: Bevor die berechtigte Geschäftsführung es selber macht, nutzt sie lieber die analogen Prozesse, die eine Assistenz bestens vorbereiten kann. Lose-lose für Bank und Kunde. Win-win wäre: Digitalisierung unter Einbeziehung der tatsächlichen Nutzer:innen.
Was blockiert unsere Teams dabei, nah am Kunden zu sein und diese in die Entwicklung einzubeziehen und wie löse ich diese Blockaden auf?
Check-Frage 4
Was macht Ihr Unternehmen im Kern aus? Dieser Punkt muss für die Führungskräfte und Mitarbeitenden klar sein, damit sie das Produkt eigenständig und überzeugt weiterentwickeln können. Das hat viel mit Kultur und Führung zu tun. Was macht das Unternehmen aus? Was sind geschriebene und ungeschriebene Werte? In welchem definierten und undefinierten Rahmenwerk arbeiten Sie bisher? Was ist das Führungsverständnis dabei?
Wer sind wir, wie leben wir, wofür stehen wir und was erwarten wir deshalb von Führung?
Check-Frage 5
Wenn Sie sich diesen fünf Punkten gestellt haben, dann können Sie sich darüber Gedanken machen, ob agile Frameworks oder auch nur gewisse Elemente daraus Ihr Unternehmen widerstandsfähig für die Zukunft machen. Wenn Sie sich darüber unterhalten wollen, dann hinterlassen Sie mir einfach einen Kommentar oder kontaktieren Sie mich direkt.
Titelbild: Ferenc Horvath, Unsplash