In den letzten Wochen hatte ich das Vergnügen gemeinsam mit Joachim Pfeffer, einem unserer Partner, wenn es um das Thema physische Produktentwicklung und Regulatorik geht, im Rahmen eines Beratungsmandats an einer agileren Variante eines Produktentwicklungsprozesses (PEP) zu arbeiten. Dabei stellte sich im Laufe der Erarbeitung zunehmend die Kernfrage: Was ist der eigentliche Unterschied von einem traditionellen zu einem agilen PEP?
Die Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten, denn die physische Produktentwicklung kommt mit Constraints, die auch Agilität nicht zwingend wegdiskutieren kann. Dazu gehören zum Beispiel aufwändige Lieferanten- und Sourcing-Prozesse, gepaart mit langen Lieferzeiten der ausgelösten Bestellungen oder Technologiescouting.
Auch der Umstand, dass Hardware-Produkte nicht instant und ohne Kosten (wie Software) gebaut werden können, macht eine iterative Entwicklung komplexer, genauso wie die Systemintegration. Und dann kommt noch dazu, dass wir zeitnah vor Start der Serienproduktion den aktuellen Stand des Produkts „einfrieren“ müssen, um rechtzeitig Werkzeuge für die Serie konstruieren zu können und zu beschaffen.
Klar ist: Die agile Variante des PEP unterscheidet sich fundamental von den bisherigen in produzierenden Unternehmen üblichen Varianten. Vor allem in der Haltung und Herangehensweise an die Entwicklung des Produkts.
Hier kommen unsere Top Drei Differenzierungsmerkmale:
1. Wie so oft im agilen Arbeiten machen den Unterschied nicht unbedingt harte Methoden und Praktiken aus. Es ist vielmehr die Herangehensweise an die Produktentwicklung. Sind wir es typischerweise gewohnt, kostenoptimiert in die Entwicklung einzusteigen, so sollte ein agiler PEP Änderungen zulassen und Adaptabilität zu Gunsten von Kosten höher gewichten, um Flexibilität bis spät in den Entwicklungsprozess zu ermöglichen. Das darf auch Lieferanten involvieren, indem diese bereits ohne fertig gestellte Zeichnung beauftragt und in die Produktentwicklung integriert werden, um auch hier so flexibel wie möglich zu sein.
Klar ist: das braucht die Offenheit und die Bereitschaft dieser Lieferanten, gemeinsam an einem Ziel und damit an einem tollen und am Markt erfolgreichen Produkt zu arbeiten. Und schlussendlich kann auch die parallele Verfolgung von zwei verschiedenen Ansätzen von Beginn der Entwicklung sinnvoll sein, um die Chance der Feasibility zu erhöhen, denn durch die frühzeitige Evaluierung von Modellen werden im Vergleich zu späteren Entscheidungen die Entwicklungskosten über den gesamten Lifecycle minimal gehalten (Stichwort: Rule of Ten).
2. Ein weiterer Aspekt ist der kontinuierliche und regelmäßige Aufbau von Produkten (die Inkremente). Ja, das verursacht Kosten, aber die Investition wird in Form eines viel geringeren Risikos belohnt. Wir entwickeln zunehmend komplexe Produkte, die es nicht mehr erlauben, alles auf dem Reißbrett zu konstruieren. Und bereits aus der Software konnten wir lernen, dass die frühzeitige Integration aller Komponenten in das Gesamtsystem von entscheidender Bedeutung ist.
Das verstärkt sich nur, wenn die unterschiedlichen Komponenten auch noch von unterschiedlichen Herstellern kommen. Hier helfen heute ausgefeilte Technologien, die eine schnelle Fertigung mit nahezu jedem beliebigen Material ermöglichen (Stichwort: additive Fertigung). Kombiniert mit state-of-the-art Simulationswerkzeugen erlaubt dies dem Entwicklungsteam, einen möglichst reifen (mature) Stand nach jeder Iteration verfügbar zu haben und ein Produkt, welches mit dem Kunden diskutiert und verbessert werden kann.
3. Eng mit dem regelmäßigen Aufbau von Produkten hängt die Änderung im Monitoring des Entwicklungsfortschritts zusammen. Waren wir es im traditionellen PEP gewohnt, die Meilensteine (häufig nach einem Stage Gate Modell) sehr dokumentenlastig zu überprüfen, so wollen wir im agilen Ansatz den Fortschritt anhand eines echten Produkts bewerten. Dass die Dokumente auf einem sauberen Stand sein müssen, liegt auf der Hand, fordern dies ja auch unzählige Standards, die physische Produktentwicklungen meist entsprechen müssen. Was bedeutet das konkret? In einem Kundenprojekt konnten wir bereits im 8. Monat einen additiv gefertigten Prototyp mit vereinzelten Serienteilen herstellen und die Simulation so weit ausreifen, dass sie annähernd das finale Produkt modelliert hat. Das ist eine Aussage.
Nicht, dass wir die Design Validierung auf dem Papier geschafft haben und gegebenenfalls noch gar nicht wissen, ob wir das Ganze bauen können. Basierend auf diesem Produktstand können aber nun Product Owner und Stakeholder bewerten, wie der Fortschritt im Kontext der Gesamtproduktentwicklungszeit zu bewerten ist. Also: schaffen wir den Rest, wenn wir in 9 Monaten SOP haben und uns davor 2-3 Monate für die Werkzeugbeschaffung einplanen müssen?
Häufig begegnet uns auch die Tatsache, dass es bereits ältere Generationen des Produkts gibt. Denken wir hier unter anderem an die jeweils neue iPhone Generation oder Plattform-Updates im Automobilbau. Diese basieren oft auf bereits vorhandenen oder ähnlichen Komponenten aus der vorherigen Produktgeneration. Mit der Entwicklung der neuen Generation wird der Funktionsumfang für die Nutzer gesteigert, aber oft nur ein Teil des Produkts neu entwickelt. Diesen Vorteil können wir nutzen, um bereits vorhandene Komponenten möglichst frühzeitig in der Entwicklung zu einem Gesamtsystem zu integrieren und ein testbares Produktinkrement zu erschaffen. So haben wir die Möglichkeit frühzeitig ein erstes Feedback des Kunden und der Anwender einzuholen.
Klar, es gibt noch weitere Differenzierungsmerkmale. Doch die drei genannten sind unserer Ansicht nach die besonders Herausstechenden. Wir sind uns sicher, dass innovative Bereiche diese Art von Produktentwicklungsprozessen benötigen. Das bestätigen uns auch unsere Kunden – gerade in Entwicklungen in der Elektromobilität. Wo selbst die OEMs am Start der Entwicklung noch nicht genau wissen, was das volle Anforderungsset ist, wird kein Weg daran vorbeiführen, die Anforderungen im Zuge der Entwicklung gemeinsam zu erarbeiten und effizient die Zukunft zu entwickeln.
Stay tuned, wir bleiben an dem Thema dran.
Bildquelle: Daria Nepriakhina 🇺🇦 on Unsplash