Führung und Erziehung – interessante Parallelen

Wie sieht dieser andere Weg der Führung aus?  

Mein eigener Führungsweg begann vor 38 Jahren in einem Kindergarten. Als Zivildienstleistender in einer integrativen Kindertagesstätte in Wiesbaden arbeitete ich mit behinderten und nicht-behinderten Kindern. Dabei wurde mir schnell klar: Viele Eltern waren von der Situation überfordert, und ihre Kinder litten darunter. Wir konnten in den wenigen Stunden nicht ausgleichen, was die Kinder in ihrer häuslichen Situation erlebten.

Fast 30 Jahre später, auf einer Radtour mit meiner zweieinhalbjährigen Tochter, hatte ich eine weitere Erkenntnis. Genervt vom Zeltaufbau fuhr ich sie schroff an – ich weiß nicht mehr genau warum. Es war völlig unbedeutend, doch ich sah ihren verblüfften, völlig unverständigen Blick. Da stand ein kleiner Mensch und schaute mich an, und in ihren Augen las ich: „Papa, was ist los? Warum gehst du mich so an?“

Ich werde diesen Moment auf dem Zeltplatz in Frankreich nie vergessen. Plötzlich wurde mir klar: Ich musste hier und jetzt sofort meinen Umgang mit ihr ändern. Das Problem war nicht sie, sondern ich – ich hatte völlig absurde Anforderungen und Vorstellungen an diesen Urlaub. Ich musste meine eigene Einstellung ändern und diese Reise völlig anders bewerten. Dieser Moment, er dauerte vielleicht zehn Sekunden, veränderte meine Einstellung, mein Verhalten und meine Führung sowohl meinen Kindern als auch meinen Kolleg:innen gegenüber grundlegend.

Dieselbe Dynamik erlebe ich in vielen Unternehmen: Führungskräfte projizieren oft ihre eigenen Unsicherheiten, Defizite und Ansprüche unreflektiert auf ihre Teams, anstatt Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen. Entscheidend war für mich der Blick meiner Tochter: Mit ihren 2,5 Jahren konnte sie per Definition nichts falsch machen. Sie war „unschuldig“ in ihrem Verhalten, und genau hier beginnt die Magie, die ich seitdem in der Arbeit mit Menschen als Prinzip verfolge.

Vertrauen als Grundlage der Selbstorganisation

Becky Kennedy nennt das Good Inside. In ihrem gleichnamigen Buch spricht sie von der Bedeutung von Vertrauen – und meint damit nicht das Vertrauen in das Verhalten des anderen, sondern das Vertrauen in dessen Wesen und Charakter:

„(…) because when you’re confident in your child’s goodness, you believe in their ability to behave ‘well’ and do the right thing. And as long as you believe they are capable, you can show them the way. This type of leadership is what every child craves—someone they can trust to steer them down the right path“ (Kennedy, 2022).

Dieses Prinzip lässt sich direkt auf die Arbeitswelt übertragen. Vertrauen in das Wesen und die Fähigkeit, alles lernen zu können, bedeutet nicht, dass Mitarbeitende bereits alles können, sondern dass sie das Potenzial haben zu lernen. Unsere Aufgabe als „Leader“ ist es, diesen Lernprozess zu unterstützen, indem wir Orientierung geben und einen sicheren Rahmen schaffen. Wir müssen uns auf die Lernenden einstellen und das Umfeld so gestalten, dass unsere Mitarbeiter:innen leisten können, was gefordert ist.

Diese Form von Leadership lässt sich als pädagogischer Zugang zum Führen beschreiben. Führungskräfte, die sich bewusst machen, dass sie ihre Mitarbeiter:innen durch „Ausbilden“ führen, erkennen, dass die Verantwortung für den Erfolg bei ihnen liegt – so wie es auch bei Eltern der Fall ist: Die Kinder sind nicht für ihr eigenes Gedeihen verantwortlich, das liegt in der Verantwortung der Eltern. Wir sind verantwortlich dafür, dass sie mitmachen können.

Psychologische Sicherheit als Basis für Entwicklung

Ein weiterer wesentlicher Aspekt erfolgreicher Führung ist das, was Amy Edmondson als „psychologische Sicherheit“ bezeichnet. Es ist unsere Aufgabe als Führungskräfte, ein Umfeld zu schaffen, in dem sich unsere Mitarbeitenden trauen, Ideen zu äußern, Risiken einzugehen und Fehler zuzugeben, ohne Angst vor negativen Konsequenzen. Das bedeutet nicht, Fehler zu ignorieren, sondern sie als Lernchancen zu sehen.

Hier geht es nicht nur um das oben genannte Vertrauen in das „Gute“ des Gegenübers, sondern darum, die Kommunikationsbedingungen im Team so zu gestalten, dass sich alle frei äußern können – auch wenn das Gesagte manchmal unbequem ist. Ich finde es heute sehr herausfordernd, solch ein Umfeld zu schaffen: nicht nur wegen offenkundiger Schwächen mancher Führungskräfte, die im schlimmsten Fall toxisch agieren oder einfach die Richtung nicht halten können, sondern auch wegen der vielfältigen Ansprüche. Gesellschaftliche Prägungen, Einstellungen zur Organisation und oft überhöhte Erwartungen an die Arbeit spielen dabei eine Rolle. Kein Wunder, dass es mittlerweile einen neuen Trend gibt, „einfach wieder arbeiten zu gehen“, um Geld zu verdienen, während Selbstverwirklichung vor dem Fernseher beim Netflix-Schauen stattfindet.

Grenzen als Orientierung – die andere Seite

Vertrauen in das Gute und eine Teamdynamik, die ich hier vereinfacht „Fehlerkultur“ nenne, bedeuten jedoch nicht, dass Kinder oder Teams einfach tun können, was sie wollen, oder sich verhalten dürfen, wie es ihnen passt. Für Kennedy ist der Gegenpart hierzu die Grenze. An dieser Stelle wird für mich die Selbstermächtigung greifbar. Oft wird das Setzen von Grenzen mit Konsequenzen gleichgesetzt: „Wenn du X tust, passiert Y.“ Das gibt allerdings die Macht in die Hände der anderen und lässt die Führungskraft ohnmächtig zurück, wenn die Mitarbeiter:innen nicht kooperieren.

Hier setzt Becky Kennedy eine Art „Super-Power“ von Führung, die zur Selbstermächtigung führt, ohne den anderen die Chance zu geben, in die eigene Einflusssphäre einzutreten. Sie definiert Grenzen so:

„A boundary is something you tell someone you will do, and it requires the other person to do nothing“ (siehe: https://youtu.be/nsu0netaABw?si=QtVzOJ_izfoHftiY).

Diese Definition ermächtigt die Person, die die Grenze setzt, denn sie wird unabhängig davon, ob und wie die andere Seite reagiert. In der Arbeitswelt heißt das: Führungskräfte müssen klar kommunizieren, was passiert, wenn bestimmte Rahmenbedingungen nicht eingehalten werden – und genau das wird dann eintreten, unabhängig davon, was die Teammitglieder tun.

Drei Prinzipien für gelingende Führung in selbstorganisierten Teams

  1. Der andere ist im Grunde gut.
  1. Erzeuge ein Klima, in dem gelingende Kommunikation (psychologische Sicherheit) möglich ist.
  1. Setze Grenzen so, dass der andere nichts tun muss.

Diese Schritte sind entscheidend für erfolgreiche Führung in selbstorganisierten Teams. Selbstorganisation braucht eine sichere Führung – keine narzisstische oder gar toxische, patriarchale Führung, sondern eine, die in sich ruht und weiß, was sie will.

Dann folgt der entscheidende Schritt: diese Haltung wirklich zu leben. Dabei helfen Tools und Systeme, die Gewohnheiten etablieren und dadurch Sicherheit aufbauen. Solche Werkzeuge lassen sich erlernen – zum Beispiel in unserem Agile Leadership Programm (https://www.borisgloger.com/training/agile-leadership), das vielleicht für dich ein erster Schritt auf dem Weg zu gelingender Führung sein kann.

Willst du mehr über das Thema Führung erfahren? Auf unserer Website findest du einen Überblick aller Trainings, die wir zu diesem Thema anbieten. Für alle, die mehr lesen und stöbern möchten, klickt euch doch durch unsere Wissensecke. Viel Spaß!

Agiles Lernen
Neues Arbeiten
ScrumMaster
Product Owner
Agile Methoden
Agilität in Unternehmen
Agiles Management
Agile Coach
Training
Scrum
Team
BG
March 4, 2025

Table of content

Diesen Beitrag teilen

Das könnte auch interessant sein:

Scrum Master und Agile Coaches – Ersetzt KI unsere Rolle oder eröffnet sie neue Chancen?
BG

Scrum Master und Agile Coaches – Ersetzt KI unsere Rolle oder eröffnet sie neue Chancen?

Retrospektiven neu gedacht: 5 kreative Formate, die euer Team wirklich voranbringen
BG

Retrospektiven neu gedacht: 5 kreative Formate, die euer Team wirklich voranbringen

KI und Automatisierung: Die Zukunft der Product Owner-Rolle
BG

KI und Automatisierung: Die Zukunft der Product Owner-Rolle

Sieben typische Anfängerfehler neuer ScrumMaster – und wie du sie vermeidest
BG

Sieben typische Anfängerfehler neuer ScrumMaster – und wie du sie vermeidest

Scrum vs. Kanban: Eine kritische Reflexion jenseits der Methoden
BG

Scrum vs. Kanban: Eine kritische Reflexion jenseits der Methoden

Unterricht gehört abgeschafft!
BG

Unterricht gehört abgeschafft!

Scrum im Bau: Wie Agilität die Baubranche revolutioniert
BG

Scrum im Bau: Wie Agilität die Baubranche revolutioniert

Scrum im Verkauf
BG

Scrum im Verkauf

Führung und Erziehung – interessante Parallelen
BG

Führung und Erziehung – interessante Parallelen

Stop Starting. Start Finishing – oder arbeitet am Widerstand.
BG

Stop Starting. Start Finishing – oder arbeitet am Widerstand.

Agile Coaching – deine persönliche Variante der Kreativität
BG

Agile Coaching – deine persönliche Variante der Kreativität

Agiles Coaching: Wie es Teams und Organisationen nachhaltig verändert
BG

Agiles Coaching: Wie es Teams und Organisationen nachhaltig verändert