Ungefähr sechs Wochen nach meinem Einstieg bei borisgloger nahm ich an den sogenannten „Company Days“ teil – den vierteljährlichen Treffen mit allen Mitarbeitenden, bei denen an der Firmenkultur und Beratungspraxis gearbeitet wird.
Als wäre es gestern gewesen, erinnere ich mich noch an mein Erstaunen, als ich den Arbeitsraum sah: Statt eines Auditoriums mit Tischen gab es einen Stuhlkreis. Das Treffen wurde von einer Kollegin geleitet. Wer welche Rollen oder Funktion im Unternehmen einnahm (z. B. CPO, CSM), war nicht sichtbar. Bis dahin kannte ich Kreisarbeit eher aus Seminaren – seit ich sie bei borisgloger im Business-Kontext kennengelernt und erlebt habe, kann ich mir kein Meeting mehr ohne sie vorstellen. Auch im virtuellen Raum funktioniert die Methode super. An die Stelle des physischen Kreises tritt eine einfache Visualisierung mit den Namen der Teilnehmer:innen im Kreis.
Bekannt wurde die Methode „The Circle Way“ (CW) durch Ann Linnea und Christina Baldwin, die die Kreisstruktur für eine veränderte Zusammenarbeit von Organisationen und Gemeinschaften nutzen. Die Prinzipien und Praktiken von CW tragen dazu bei, einen Raum für Diskurs zu schaffen, in dem leise Stimmen genauso viel Platz haben wie laute und in dem Platz ist für Selbstorganisation (bzw. Selbstverantwortung) statt Hierarchie. Es geht dabei jedoch weniger um das „miteinander Reden“, als darum, als Gruppe in einen Dialog zu kommen, sich gemeinsam auf ein Thema zu fokussieren.
Um in einen Dialog zu kommen und diesen zu fördern, gibt es eine klare Rollenverantwortung. Der Host (Gastgeber:in) spricht die Einladung aus und lädt so zur Diskussion ein. Er oder sie bereitet den Kreis vor, stellt sicher, dass alle Eingeladenen verstehen, was diskutiert werden soll und warum sie eingeladen wurden. Der Host eröffnet den Kreis (Check-in), und macht die Teilnehmenden darauf aufmerksam, dass die Verantwortung gemeinsam getragen wird.
Dem Host gegenüber sitzt der oder die Prozesswächter:in (auch Guardian), um Blickkontakt zu halten und gleichzeitig beide Seiten des Kreises im Blick zu haben. Der Guardian achtet auf die Einhaltung des Prozesses und der Regeln des Kreises. Er oder sie sorgt für Pausen und Momente zum Innehalten, um das Gesagte zu verarbeiten (jedes Kreismitglied darf dem Guardian ein Zeichen geben, wenn es eine Pause braucht). Er oder sie sorgt außerdem dafür, dass der Fokus gehalten wird.
Der Scribe hält alle wichtigen Informationen und Ergebnisse des Meetings fest, z. B. auf einem Flipchart oder virtuellen Board, das alle Teilnehmenden sehen können.
Für mich ist die Kreisarbeit mehr als nur eine Moderationsmethode: Sie spiegelt eine Haltung. Wenn ein Facilitator Kreisarbeit nutzt, stellt er oder sie Gleichberechtigung her und überträgt die Verantwortung auf alle Anwesenden. Während in Unternehmen Rollen oft ohne zeitliche Limitierung vergeben werden, bedeutet Führung im Rahmen der Kreisarbeit, dass jede:r eine Führungsposition für die Zeit des Kreises wahrnehmen und seine oder ihre Fähigkeiten zur Verfügung stellen kann. Innerhalb des Kreises übernimmt jede:r Einzelne Verantwortung für die Gruppe, für das Gelingen, für die Qualität der Gespräche, für ein gutes „Ergebnis“.
Als Facilitator ist es daher meine Aufgabe, Vertrauen zu schenken und deutlich zu machen, dass ich der Gruppe und jeder Person diese Verantwortungsübernahme auch zutraue. Sowohl für den Facilitator als auch für Kreisteilnehmer:innen ist es eine Herausforderung, dieses Vertrauen aufzubringen, besonders für Führungskräfte in hierarchisch geprägten Unternehmen, die für die Dauer des Kreises auf ihre Führungsautorität verzichten.
Umgekehrt ist es nicht mehr möglich, sich in der hintersten Reihe oder hinter einer Führungskraft zu verstecken. Jede:r wird gesehen und hat die Chance, sich einzubringen.
Kreisarbeit eignet sich für jedes Thema – zum Beispiel um gemeinsam Entscheidungen zu treffen: Bei borisgloger haben wir im März 2020 die Kreisarbeit genutzt, um gemeinsam zu überlegen, wie wir mit dem durch Corona veränderten Arbeitsalltag umgehen und wie wir unsere Ressourcen nutzen wollen. Das Besondere an dieser Kreisarbeit war, dass wir genug Platz für Bedenken und Sorgen gelassen haben – und viele wunderbare neue Ideen entstanden sind.
Besonders gern wende ich das Prinzip der Kreisarbeit bei Retrospektiven an. Als Facilitator kann ich mit Hilfe der Kreisarbeit einen Raum kreieren, in dem ein Team seinen positiven wie negativen Gedanken Ausdruck verleihen, Verständnis erhalten und wieder neue Inspiration schöpfen kann.
Eines der Prinzipien der Kreisarbeit ist: „Es endet, wenn es endet“, was so viel bedeutet wie: Der Kreis ist geschlossen oder beendet, wenn niemand mehr etwas zu sagen hat bzw. sagen möchte. Wenn es eine feste Timebox gibt, ist es die Aufgabe des Guardians dafür zu sorgen, dass das Meeting pünktlich endet.
Ändert zuerst eure Haltung, dann die Anordnung eurer (virtuellen) Stühle und so ändert ihr auch die Qualität der Unterhaltung.
Mehr zu den Prinzipien und Praktiken der Kreisarbeit erfahrt ihr in diesem Video.
Weitere Informationen: http://www.thecircleway.net
Titelbild: Paula Schmidt, Pexels