Spieglein, Spieglein – Die etwas andere Retrospektive

Keine Sorge, dieser Blogbeitrag enthält kein „Spieglein, Spieglein an der Wand“. Er handelt nicht von Selbstliebe oder den beängstigenden Schönheitsidealen unserer „Social“-Media-Epoche. Er thematisiert einen ganz besonderen Spiegel, der es uns ermöglicht, etwas tiefer zu blicken und unsere Schokoladenseite hervorzuholen. Wie Jean Paul einst so schön sagte: „Nicht der äußere Mensch, sondern der innere hat Spiegel nötig.“

Stärken in den Mittelpunkt rücken, um das scheinbar Unmögliche zu erreichen

Als ScrumMaster wollte ich gemeinsam mit meinem Team einmal „unter die Oberfläche“ blicken, indem wir die jeweiligen Selbstbilder mit den Fremdbildern der anderen Teammitglieder abgleichen. Mein crossfunktionales Scrum Team aus Fachexperten sowie Frontend- und Backendentwicklern arbeitet im Umfeld eines Versicherungskonzerns, in dem über Jahre hinweg eine stark hierarchische Unternehmenskultur gepflegt wurde. Dieses „klassische Mindset“ war in der Vergangenheit etwa spürbar, wenn man sich bei der Frage nach Feedback schon mal mit der Antwort: „Net gschimpft ist Lob gnug.“ begnügen musste.Nun wollte ich den Fokus meines Team von misslungenen Sprintzielen und zu vielen einbremsenden Abhängigkeiten hin zu ihren Stärken und den bereits erreichten Etappen lenken. Denn zum einen war ich mir nur zu sehr bewusst, dass jeder Einzelne sein Bestes gegeben hatte und wir hauptsächlich wegen äußerer Rahmenbedingungen nicht mehr erreichen konnten. Zum anderen bin ich davon überzeugt, dass unsere Stärken uns dazu beflügeln können, das scheinbar Unmögliche zu erreichen. Also haben wir die Zeit unserer Retrospektive dafür genutzt, unsere Selbst- und Fremdbilder im Team abzugleichen.

Mit der Prime Directive den richtigen Rahmen für die Retrospektive schaffen

Um ehrlich zu sein, war das Ganze ein kleines Experiment, das mir auch gehörig um die Ohren hätte fliegen können. Denn die Gefahr mit solch persönlichen Themen ist die: Wenn ich es als ScrumMaster nicht schaffe, einen geschützten Raum für diese Retrospektive zu erzeugen, in dem wir uns offen austauschen können, dann wird mein Vorhaben als „esoterischer Quatsch“ abgetan. Niemand wird sich darauf einlassen und ich habe genau das Gegenteil von dem erreicht, was ich eigentlich bezwecken wollte.Also habe ich diese Retrospektive ganz besonders sorgfältig vorbereitet. Den Rahmen habe ich durch die erneute Vorstellung der Prime Directive – dem höchsten Prinzip der Retrospektive – geschaffen. Wir gehen davon aus, dass, egal was passiert ist, jeder nach dem vorhandenen Wissensstand, seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten sein Bestes getan hat. Ich habe zu Beginn des Termins erklärt, dass der Fokus dieser Retrospektive darauf liegen wird, was in unserem Team bereits gut läuft und dass ich die Möglichkeit schaffen werde, jeden einzelnen Kollegen für seinen persönlichen Beitrag zu unserem Sprintziel wertzuschätzen. Den Gruppenprozess selbst habe ich durch die Kreisarbeit gesteuert. Dadurch, dass ich die Reihenfolge der Teilnehmer in unserem „virtuellen Kreis“ ebenfalls in der PPT festgehalten habe, konnte sich jeder relativ einfach merken, wer sein/e nachfolgende/r Kolleg/in war.Das scheinbar zurückhaltende Schweigen, das auf meine Einleitung folgte, habe ich unbeirrt mit der Beschreibung des Ablaufs gefüllt und so direkt zum Ausprobieren motiviert.

Abgleich des Selbst- und Fremdbilds durch den inneren Spiegel

Alle Teammitglieder hatten vor der Retrospektive seine persönliche PPT zum Abgleich des Selbst- und Fremdbilds per E-Mail erhalten. Im ersten Schritt hatten sie fünf Minuten Zeit, um in der PPT zu formulieren, welche Kerntätigkeiten der eigenen Rolle sie besonders gut beherrschen. Unser Frontendentwickler schrieb beispielsweise auf, welche Tätigkeiten ihm besonders leicht von der Hand gehen bzw. wo seine Stärken liegen.Anschließend sendete jeder seine PPT mit dem ausgefüllten Selbstbild per E-Mail an das nächste Teammitglied im virtuellen Kreis. Nun hatte jedes Teammitglied drei Minuten Zeit, um auf einer neuen Seite in der PPT zu ergänzen, welche Stärken er oder sie an dem/r Kollegen/in wahrgenommen hat. Zusätzlich konnten sie ein persönliches Dankeschön formulieren.Das wiederholten wir so lange, bis jeder wieder seine eigene PPT im Postfach vorfand. Zum Abschluss stellte ich es dem Team frei, die größte Überraschung oder neue Erkenntnisse in der großen Runde zu teilen. Es ist immer wieder unglaublich zu sehen, was ein Dankeschön für das verantwortungsvolle Treffen von Entscheidungen, die positive Stimmung im Team oder den Zusammenhalt ausmachen kann

Motivation durch den virtuellen Spiegel im Team

So schwer wir uns manchmal mit der Selbstreflexion tun, so einfach ist doch diese Methode. Sie ist relativ kurzweilig und kann in einer Fokus-Retrospektive Abwechslung in die sonst immer gleichen Fragestellungen bringen. In meinem Team hat der virtuelle Spiegel nicht nur unheimlich motivierend auf jeden Einzelnen gewirkt, sondern er hat es auch in diesen verrückten Zeiten enger zusammenrücken lassen. Trotz meiner anfänglichen Befürchtungen hatten alle Spaß bei dieser Retrospektive. Ich werden sie sicherlich auch in Zukunft wieder nutzen, um die Stimmung im Team aufzuheitern und unseren Blick auf das Positive zu lenken. Ein effektiver „innerer Spiegel“ also, den ich jedem ScrumMaster ans Herz legen möchte.Bild: Unsplash License, Noah Buscher

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Kristina Rühr
June 29, 2020

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