Gerade in Branchen wie der Pharmaindustrie, die stark von außen reguliert werden, sind es Teams gewohnt, dass Prozesse und Abläufe klar definiert sind, dass es eine eindeutige Zuordnung von Zuständigkeiten gibt und die Entscheidungsbefugnisse ebenso klar verteilt sind. Dabei haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb der täglich zu durchlaufenden Prozesse kaum Gestaltungsfreiräume, da die Entscheidungskompetenzen auf Gremien oder Managementebenen verlagert sind. Als Endresultat tragen die einzelnen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kaum Verantwortung. Und auch die Produktentwicklung bleibt hiervon nicht verschont.
Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi haben dieses Phänomen bereits 1986 in ihrem berühmten Artikel „The New New Product Development Game“ sehr treffend beschrieben. Sie verglichen das mehrheitlich in Unternehmen genutzte Produktentwicklungskonzept mit einem Staffellauf, bei dem ein Läufer den Staffelstab an den nächsten übergibt.Wer schon einmal eine Staffel bei einem Marathon gelaufen ist, weiß, dass gerade die Übergabe gewisse Risiken mit sich bringt: Hat die vorherige Läuferin, der vorherige Läufer eine gute Zeit erzielt, so möchte man diesen Vorsprung natürlich ausbauen. Auch umgekehrt verhält es sich ähnlich: Liegt man bereits zurück, will man nicht noch mehr Zeit verlieren. Als Konsequenz findet die Übergabe des Staffelstabs – bzw. heute des Zeitmessers – immer unter enormem Zeitdruck statt und häufig gehen wertvolle Informationen zwischen den LäuferInnen verloren.Was bei der Staffel Streckenverlauf oder Windbedingungen sind, können in der pharmazeutischen Produktentwicklung Informationen zu Spezifikationen oder Formulierung sein. Zudem verleitet eine so klare Trennung der Verantwortlichkeiten dazu, nicht über den eigenen Tellerrand hinauszusehen. Beim Staffellauf beispielsweise wird jede Läuferin, jeder Läufer für sich an der eigenen Kondition und der persönlichen Bestzeit auf dem jeweiligen Streckenabschnitt des Marathons arbeiten. In Unternehmen wird die Auswirkung dieser klaren Trennung zwischen den Expertenteams noch deutlicher. Das Team, das mit der eigentlichen Entwicklung beschäftigt ist, optimiert diese Phase so für sich, dass der Staffelstab möglichst kurz im eigenen Team verweilt und schnell zur nächsten Entwicklung übergegangen werden kann. Bei diesen Verbesserungen haben die Teams selten den gesamten End-to-End-Prozess im Blick, sondern häufig nur ihren Zuständigkeitsbereich. Die Resultate sind nicht mehr optimal funktionierende Schnittstellen und ein fehlendes Verantwortungsbewusstsein für den gesamten Prozess, den das Produkt durchlaufen muss.
Die beiden Autoren Ikujiro Nonaka und Hirotaka Takeuchi schlagen in ihrem Artikel den sogenannten Rugby-Ansatz als Lösung vor. Sie referieren hier auf jene Phase beim Rugby, in welcher der Ball innerhalb des Teams immer wieder übergeben wird, während das Team auf dem Spielfeld Raum gewinnt. Das gesamte Team arbeitet somit Hand in Hand, hat jederzeit alle Informationen verfügbar und kann innerhalb des Spielzugs sofort auf Aktionen des Gegners reagieren. Auf den Entwicklungsprozess übertragen zielt dieser Ansatz auf möglichst weit überlappende Phasen mit selbstorganisierten und selbstlernenden Projektteams ab, die den gesamten Prozess in ihrer Verantwortung haben.Basierend auf diesen Erkenntnissen errichteten die beiden Autoren nicht nur einen wichtigen Grundpfeiler für das Framework Scrum, sondern waren in ihrer Denkweise so manchem Unternehmen des 21. Jahrhunderts voraus. Für die pharmazeutische Industrie hieße das, dass es beispielsweise keine klare personelle Trennung mehr nach einzelnen Phasen wie Forschung, Entwicklung, Präklinik, Produktion, klinisches Studiendesign gibt, sondern sich das Team von Anfang an aus allen Expertinnen und Experten zusammensetzt, die zur Produktentwicklung benötigt werden. So wie es beispielsweise bei Biotech-Startups oft der Fall ist.Stellen Sie sich vor, Sie müssen nicht mehr wochenlang auf Meetings mit den Expertinnen und Experten warten, sondern haben diese zu 100 % im Team und damit jederzeit verfügbar!
Jeff Sutherland und Ken Schwaber bauten vor 23 Jahren diesen Ansatz durch das Framework Scrum noch weiter aus. Sie wollten weg von überladenen Projektmanagement-Methoden – hin zu einem „leichtgewichtigen“ Ansatz, der Unternehmen dabei hilft, die an sie gestellten Marktanforderungen wieder befriedigen zu können. Denn unsere Welt wird immer schnelllebiger. Meiner Erfahrung nach ändern sich die Rahmenbedingungen so rasant, dass die Anforderungen an ein Projekt nach 6 Monaten schon ganz anders aussehen können und eine mehrjährige Produktentwicklung nach einem festen Plan nur selten das eigentliche Bedürfnis der Nutzer befriedigen kann.Heute arbeiten die Scrum-Teams mit kurzen Iterationen, in denen sie inkrementell, also in kleinen Schritten, Produkte entwickeln, zu denen sie direkt Feedback der Nutzer einholen können. Sie entwickeln nicht mehr hinter verschlossenen Bürotüren fernab von den eigentlichen Anwendern des späteren Produkts, sondern befinden sich im stetigen Austausch mit ihnen und nähern sich so Iteration für Iteration dem finalen Produkt. Dieses schrittweise Vorgehen erlaubt den Teams, sich ändernde Rahmenbedingungen flexibel in die Entwicklung einfließen zu lassen. Zudem werden Entscheidungen dort getroffen, wo die Informationen liegen: direkt im Entwicklungsteam. Das lange Warten auf Ansagen des Managements oder der Gremien würde der Produktivität des Teams nur im Weg stehen.
Die Einführung von Scrum in einer Organisation geht jedoch über die Veränderungen der operativen Prozesse hinaus und erfordert auch eine veränderte Haltung aller Beteiligten. In Bereichen wie dem Bankensektor und der Automobilbranche ist das bei den führenden Unternehmen bereits passiert. Die Pharmaindustrie befindet sich unserer Erfahrung nach noch ganz am Anfang dieses Wandels, auch wenn sich erste Unternehmen wie Böhringer-Ingelheim der Herausforderung bereits stellen.Aufgrund der langen Entwicklungszeiten und des stark regulierten Umfelds, sind besonders kreative Köpfe für die Verwirklichung eines cross-funktionalen Arbeitens gefragt. Doch die Erfolgsgeschichte agiler Methoden zeigt sehr schön, dass es sich heute rentiert, den Anwender und Kunden wieder in den Fokus zu rücken. Zudem wird es für Unternehmen immer überlebenswichtiger, schnell auf Änderungen am Markt reagieren zu können. Unflexible Prozesse, das Warten auf Entscheidungen und Teams, die sich nicht für das Endprodukt und den Gesamtprozess verantwortlich fühlen, stehen dem eindeutig entgegen. Dabei sollten wir alle doch ein vorrangiges Interesse haben: in kürzester Zeit für den Kunden werthaltige Produkte auf den Markt zu bringen.