Wenn ich als ScrumMaster durch Retrospektiven nicht weiterkomme, Kreisarbeit kein Ergebnis bringt oder das Team zerstritten ist und nicht mehr miteinander arbeiten will, greife ich auf Dynamic Facilitation (DF) zurück.
Was hat es mit dieser Methode auf sich? Wann sollte man sie anwenden, wann nicht? Und wie funktioniert Dynamic Facilitation? Ein Überblick für ScrumMaster, Agile Coaches und andere Facilitators.
In immer mehr Meetings und Workshops wird in einem Kreis oder an runden Tischen gearbeitet, um Kommunikation zu fördern und Hierarchien abzubauen. Dafür gibt es im Werkzeugkoffer für Moderation unzählige Formate und Methoden, bei denen das Miteinander-Arbeiten im Fokus steht.
Völlig anders geht es bei der Methode Dynamic Facilitation zu. Hier werden alle Teilnehmenden nebeneinander platziert und dürfen nur mit dem Facilitator sprechen. Dieser lenkt das Gespräch aber nicht mit Fragen oder einer Agenda, sondern wird zum „Stift“ für die Gruppe: Er oder sie schreibt alles (ja, alles!) auf, was gesagt wird.
Für die meisten Moderator:innen ist Dynamic Facilitation das letzte Mittel, wenn das Team feststeckt. Sie ist keine einfache Methode, erfordert Disziplin und ist für den Facilitator sehr anstrengend. Ich empfehle dir deshalb, eine zweite Person als Unterstützung zu suchen, damit ihr euch abwechseln könnt. Such dir jemanden, mit dem du schon früher reibungslos zusammengearbeitet hast, damit ihr achtsam in den Übergaben seid und den Prozess dabei nicht stört. Da jede:r Teilnehmer:in Zeit und Gehör bekommt, eignet sich DF für Gruppen mit maximal 20 Teilnehmenden.
Erkläre den Teammitgliedern bereits in der Einladung zum Termin, was das Ziel des Zusammentreffens ist und warum du DF als Methode gewählt hast. Nimm dir in einem Vorgespräch genug Zeit, um den Prozess zu erklären, denn du brauchst die volle Zustimmung aller Teilnehmenden. Ich hole mir diese explizit ein, entweder mit Handzeichen oder ich bitte die Teilnehmenden, mir eine kurze Bestätigungsmail zu schicken.
Der Prozess einer Dynamic Facilitation kann bis zu zwei volle Tage dauern – 4 x 4 Stunden sind zu empfehlen, um wirklich zu einem Durchbruch zu gelangen. Wie bei anderen Moderationsmethoden gilt: Es ist vorbei, wenn es vorbei ist. Die Teilnehmenden merken selbst, ob sie mehr Zeit brauchen oder früher fertig sind. Vereinbart wird außerdem, dass abgesehen von den festgelegten Pausen niemand den Raum verlässt.
Zu Beginn des Meetings lässt du die Teilnehmenden abhängig von den Raumverhältnissen in einer oder mehreren Reihen nebeneinander Platz nehmen. Wichtig ist, dass sie mit dem Blick nicht zueinander gerichtet sitzen, sondern auf vier große Metaplanwände schauen.
Jede dieser Wände ist mit einem der folgenden Themen betitelt:
Erkläre vor dem Start noch einmal den Ablauf der DF und die Rolle des Facilitators, um eine gemeinsame Basis zu schaffen.
Während einer DF durchlaufen die Teilnehmenden vier Phasen, die jeweils fließend ineinander übergehen. Nach der Einführung erfolgt die Phase des Purging, bei der alle Teilnehmenden reihum ihre Sichtweisen, Fragen und Gedanken offen teilen. Alles Gesagte wird auf den vier Planwänden festgehalten. Durch das Aufschreiben und Einander-Zuhören entsteht eine Langsamkeit, die Raum für neue Ideen und Impulse schafft. Die Komplexität des Themas bestimmt die Dauer dieser ersten Phase. Sie kann 20 Minuten oder mehrere Stunden dauern.
Nachdem alles gesagt wurde, schauen die Teilnehmenden in der Yuck-Phase auf das mitunter sehr komplexe Bild, das auf den vier Wänden entstanden ist. Da zu diesem Zeitpunkt noch keine einfache Lösung erkennbar ist, führen die gesammelten Standpunkte, Einwände, Ideen und Fragen oftmals zu Frustration und Verwirrung. Der Facilitator unterstützt aber nicht bei der Lösungsfindung, sondern vertraut darauf, dass die Gruppe beim Betrachten der vier Wände auf neue Ideen kommen wird.
Die Flow-Phase startet, wenn neue Blickwinkel auf das Thema entstehen oder Fragen gestellt werden. Teilnehmende beginnen nun, Ideen zu äußern und Lösungen zu diskutieren. Festgehalten durch den Facilitator entsteht ein gemeinsames Verständnis und ein Ergebnis (oder auch mehrere).
Zum Abschluss werden die nächsten Maßnahmen und Themen (wie z. B. Vereinbarungen) besprochen und auf einem Flipchart oder einer weiteren Planwand festgehalten.
Der Facilitator führt durch den gesamten Prozess, indem er oder sie nacheinander mit den Teilnehmenden spricht und alles – möglichst wortgenau – mitschreibt. Dabei ist es unwichtig, ob du als Moderator:in das Gesagte verstehst. Wichtig ist nur, dass es festgehalten wird. Im Zweifel hilft eine einfache Frage: „Wie kann ich das aufschreiben?“
Dabei ist Achtsamkeit gefragt, denn jede:r Teilnehmende soll sich gehört fühlen und alle wichtigen Aussagen auf einer der Metaplanwände festgehalten sehen. Du kannst durch Fragen wie „Und was ist da noch?“ oder „Gibt es noch etwas, was du hinzufügen möchtest?“ den Prozess unterstützen. Erst wenn der oder die befragte Teilnehmende nichts mehr zu sagen hat, wendest du dich der nächsten Person zu.
Das erfordert – sowohl von dir als auch von den Teilnehmenden – Disziplin und Geduld. Einander zuzuhören und nicht reagieren zu können, ist auch eine Belastungsprobe, denn jede:r nimmt die angespannte Stimmung im Raum wahr. Das Setting erlaubt den Teilnehmenden erst dann, die eigenen Gefühle und Wahrnehmungen in Worte zu fassen, wenn sie an der Reihe sind.
Aus Erfahrung kann ich sagen, dass Dynamic Facilitation in ihrer Reinform in den seltensten Fällen auch im virtuellen Raum funktioniert. Die Methode erfordert sehr viel Fingerspitzengefühl, um einander zuzuhören und sich nicht ablenken zu lassen. Bei Remote-Meetings haben die Teilnehmenden hingegen die Möglichkeit, die Kamera an- oder auszuschalten – und beide Optionen passen nicht zur Idee von Dynamic Facilitation. Im ersten Fall sieht man die Gesichter der anderen, was der Grundidee widerspricht, dass sich die Teilnehmenden nicht direkt anschauen können. Bei ausgeschalteter Kamera kann wiederum auch der Facilitator die Mimik und Gestik der Sprechenden nicht sehen – und beendet vielleicht eine der Phasen zu früh, obwohl er „tiefer gehen“ hätte können.
Trotz aller Anstrengung und möglicher Hürden lohnt sich diese Methode, denn jede:r Teilnehmende fühlt sich gesehen und gehört, wenn man als Moderator:in achtsam arbeitet. Auf diese Weise können Lösungen für Herausforderungen entstehen, die das Team vorher nicht gesehen hat, und die Teilnehmenden können ein neues Verständnis bestimmter Themen oder füreinander entwickeln und zukünftig anders miteinander umgehen. Beste Voraussetzungen, damit die Kooperation in Zukunft wieder besser klappt.
Würde Dynamic Facilitation deinem Team helfen und hättest du gerne Unterstützung beim Einsatz in der Praxis? Dann schreib gerne einen Kommentar oder nimm direkt Kontakt zu mir und meinen Kolleg:innen auf.
Titelbild: Kelly Sikkema auf Unsplash