Sonntag war ich in einer katholischen Sonntagsmesse. Eine ganz normale Messe. Die kleine Kirche im Speckgürtel von Wien, offenbar in den 1960ern erbaut, ist nichts Besonderes. Es gibt kaum Schmuck und das große Kreuz dominiert die Wand hinter dem Altar. Die 100 bis 150 Menschen, die an diesem Sonntagmorgen in die Kirche gekommen waren, kamen um eines verstorbenem Priesters zu gedenken und um die Musik zu genießen, die deshalb besonders schön sein würde.Der Pfarrer hielt sich zurück, blieb unscheinbar. In seiner Predigt machte er nur eine Sache deutlich: Jesus wurde einmal von zwei Jüngern aufgehalten. Er fragte: „Was wollt ihr?“ Der Pfarrer erklärte, dass Jesus nicht fragte: "Was wollt ihr vom Leben? Was strebt ihr an? Was verlangt ihr?" Die korrekte Übersetzung aus dem griechischen Original lautet vielmehr: „Was sucht ihr?“Mit wenigen Worten machte der Pfarrer deutlich, dass es tatsächlich nicht um das „Wollen“, sondern um das Suchen geht. Das Erkennen der eigenen Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse, das "Mit-sich-selbst-auseinandersetzen", um freizulegen, was da ist und gefunden werden will. Als Jesus dann weiter von den Jüngern gefragt wurde „Wo wohnst du?“, was soviel bedeutete wie „Wer bist du, was tust du, wie denkst du?“, da soll Jesus gesagt haben: „Kommt mit, dann werdet ihr sehen!“ [1] Wieder erklärte der Pfarrer, dass die Jünger ein Lehrgespräch erwartet hatten. Jesus erklärte aber nicht, sondern lud sie ein, es selbst zu sehen und mit ihm zu erfahren.
Die Kälte kroch durch meine Jeans und ich zog den Reißverschluss der Jacke noch weiter zu, aber ich konnte nicht anders: Während die Gemeinde zu „Amazing Grace“ anstimmte, begann ich darüber nachzudenken, wie dieses Gleichnis wohl auf die Situation des Sprint Planning 1 umzudeuten ist. Wir sagen immer, der Product Owner soll dem Team sagen, was er will. Er soll wissen, was er sich vorstellt.Jürgen Margetich, einer unserer Consultants, hat aber als eine der Innovationen zu unserer Art und Weise Scrum zu lehren, klar gemacht, dass die User Stories im Grunde genommen Hypothesen sind. Wir sind der Meinung, dass auch der Product Owner nur vermuten kann, was der User brauchen könnte. Sicher - er muss zumindest sicher genug sein, dass er diese Hypothese und keine andere prüfen lassen will. Aber es bleibt nur ein Hypothese. Ganz im Geiste von Guy Kawasaki [2]: „Gebe den Leuten was sie wollen, bevor sie es in Worte fassen können.“
Wenn wir das Gleichnis der Lehrsituation von Jesus nun in diesem Lichte betrachten, dann wäre doch die Frage an den Product Owner: „Was suchst du? Welche Dinge versuchst du mit deiner Idee zu verändern? Was verlangt es dich, für den User zu verbessern?"Damit würden wir den Product Owner nicht mehr in ein Kreuzverhör stellen. Ihm nicht mehr zumuten, dass er es ja wissen muss. Er wäre nicht mehr das „single-neck“, wie es Ken und Jeff immer beschrieben haben und wie es auf vielen Webblogs immer und immer wieder nacherzählt wird. [3] Wir würden vielmehr im Sinne von Eric Ries [4] beginnen zu akzeptieren, dass er zwar sagt, was er will, aber dass sich natürlich auch der Product Owner auf der Suche befindet. Dass die gesamte Produktentwicklung mit Scrum eine Suchbewegung hin zu dem ist, den Kunden zufrieden zu stellen - oder besser noch: zu begeistern.Ich muss den Product Owner und das Development-Team gemeinsam so coachen, dass sie diese Suchbewegung als einen Dialog sehen, der nur miteinander geführt werden kann. In diesem Dialog ist der Product Owner dazu eingeladen, die Welt des Teams kennenzulernen, um zu verstehen, wie das geht, was es tut. Dann entsteht ein Scrum-Team, das auf gegenseitigem Verständnis und nicht auf einer Polarität, einer Spannung, basiert. Hat der Product Owner verstanden, was das Team tut und wie es ihm dabei helfen kann, sich zu verbessern, dann ist eine echte Gegenseitigkeit, ein gemeinsames Suchen entstanden.Die Kirchengemeinde verstummt, Amazing Grace ist gesungen - es ist noch immer kalt ... und doch hat sich der Besuch dieser Messe ganz unerwartet gelohnt.[1] Ich habe die Stelle nachgeschlagen: „Die zwei Jünger hörten das und gingen Jesus nach. 38 Jesus drehte sich um und sah, dass sie ihm folgten. Da fragte er: "Was sucht ihr?" - "Rabbi, wo wohnst du?", entgegneten sie. Rabbi heißt übrigens "Lehrer". 39 "Kommt mit", erwiderte er, "dann werdet ihr es sehen." So kamen sie mit. Das war nachmittags gegen vier Uhr. Sie sahen, wo er sich aufhielt und blieben den Tag über bei ihm.“ (Evangelium nach Johannes 1,35)[2] Guy Kawasaki arbeitete in den 90er Jahre als fest angestellter „Technologie-Prediger“ bei Apple und hat unter anderem das Buch „Enchantment: The Art of Changing Hearts, Minds and Actions“ geschrieben (geklaut bei GQ: http://www.gq-magazin.de/unterhaltung/stars/steve-jobs-diplom-steve-jobs-in-fuenf-lektionen/steve-jobs-diplom-interpretation-statt-imitation-eine-warnung[3] zum Beispiel hier: http://www.scrumhw.org/agile-product-development-and-the-scrum-product-owner-role/[4] Eric Ries: Lean Start Up, auch in unserer Bücherliste für 2012 zu finden